Perturbationen

posted by ush on 2010/03/13 14:54

[ Call for Papers ]

Perturbationen oder Das „Prinzip Störung“ in den Geistes- und Sozialwissenschaften: Hybridisierung, Grenzräume, Figurationen der Störung, Wissenschaftliche Tagung auf Schloss Rauischholzhausen, 05.- 07. Juli 2010.
Bewerbungsschluss: 05.04.2010

Tagungsleitung und Veranstalter: Prof. Dr. Carsten Gansel und Norman Ächtler in Verbindung mit Prof. Dr. Peter v. Möllendorff, Prof. Dr. Silke Tammen und Prof. Dr. Franz-Josef Bäumer

Mit dem Ende des Kalten Krieges nach 1989 und dem fortschreitenden Globalisierungsprozess ist es zu einem grundlegenden Wandel der weltweiten Machtverhältnisse gekommen. Zunehmend verlieren die klassischen Nationalstaaten Teile ihrer politischen Regelungsmacht. Die bis dahin gültigen Gesetze, Normen, Vereinbarungen werden in einer globalisierten Welt zunehmend durch Prozesse der Hybridisierung unterlaufen bzw. ergänzt. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich bei der Globalisierung um einen „historischen Langzeitprozess“ handelt, in dessen Verlauf es zu einer neuen Verteilung von Populationen, von Gütern, von Dienstleistungen kommt. Die durch die Globalisierung in Gang gebrachten Strukturprobleme werden nicht nur in den Sozialwissenschaften in unterschiedlicher Weise beschrieben. Mittlerweile setzt sich unter dem Begriff der ,Hybridisierung‘ ein Ansatz soziologischer Theoriebildung durch, der gegenüber der These vom ‚Kampf der Kulturen’ nicht mehr von der Existenz unüberbrückbarer kultureller Gegensätze ausgeht und sich auch von der Auffassung absetzt, es würde zu einer McDonaldisierung, mithin einem Prozess der stetigen Uniformierung der Weltgesellschaft kommen.

Stattdessen bedeutet Hybridisierung eine zunehmende Vermischung von lokalen und globalen Identitäten. Im Rahmen globalisierter Wirtschaftsprozesse, technolgischer Entwicklungsschübe und durch die gesteigerte Mobilität bestimmter Entitäten bilden sich allmählich Formen einer transnationalen Kultur heraus. Hybridisierung bedeutet ein ‚Dazwischensein’, (‚in betweeness’), genauer: die Verbindung von Nicht-Zusammengehörigem in einem soziokulturellen Zwischenraum. Freilich bedeutet dies nicht, dass es zu einer einfachen Fusion von Kulturen und ethnischen Identitäten kommt. Und dies aus verschiedenen Gründen: Zum Einen bleiben die tieferliegenden Kulturbestandteile etablierter Gemeinschaften nicht nur erhalten, sondern können durch die technologischen Rationalisierungsschübe fortwährend restabilisiert werden. Zum Anderen provozieren Hybridität und Transkulturalität fundamentalistische Gegenreaktionen. Dem Bemühen, überkommene Freund-Feind-Schemata und dichotomische Ordnungen durch „dritte Wege“ und „dritte Kräfte“ zu überwinden, stehen somit Tendenzen entgegen, sämtliche  Methoden der politischen Pazifizierung abzuwehren und stattdessen auf fundamentalistische Dichotomien zu setzen.

Weil mit dem Prozess von Hybridisierung Kartierungen und Grenzziehungen keineswegs aufgehoben sind, gewinnt die „soziologische Beobachtung und Theoriebildung vom  Standpunkt der Grenzprozesse sozialer Systeme“ (G. Preyer) im Rahmen von Modernisierungstheorien zunehmend an Bedeutung. An dieser Schnittstelle ergibt sich nun eine Verbindungslinie zu dem in und von unterschiedlichen Disziplinen markierten spatial turn mit dem entsprechenden raumsemantischen Metaphernkomplex. Tatsächlich hat die Erforschung der soziokulturellen, diskursiv-kommunikativen Formen von sozialer „Grenz“-Ziehung eine lange Tradition, die bis auf Georg Simmel und Émile Durkheim zurückgeht. Als eine Art Konsens gilt die Annahme, dass die „Konstruktion der Grenze zwischen dem Innenraum einer Gemeinschaft und der Außenwelt jenseits dieser Grenze“ als eine „elementare Operation der Herstellung sozialer Wirklichkeit“ zur verstehen ist (B. Giesen).

Relativ offen bleibt bei der angestrebten Systematisierung von Raum und Räumlichkeit innerhalb der verschiedenen Disziplinen und Wissensgebiete dagegen die Frage nach den Ursachen sowie den Orten soziokultureller Grenzziehung. Insofern stehen u.a. folgende Probleme zur Diskussion:

  • Warum, aufgrund welcher Anstöße, kommt es zu fortgesetzten soziokulturellen Grenzziehungen?
  • Wo, auf welchem Feld, werden solche Grenzen abgesteckt?
  • Wodurch, vermittels welcher Operationen werden Grenzziehungen kenntlich gemacht?
Auf die Frage nach den Ursachen bzw. den Indikatoren für Prozesse der Grenzziehungen gibt es von Seiten der Geistes- bzw. Sozialwissenschaften eine vorläufige Antwort, die sich auch mit naturwissenschaftlichen Theorien deckt. Aus systemtheoretischer Perspektive werden externe „Irritationen“ beziehungsweise „Störungen“ als Ursache für den anhaltenden selbstreferenziellen Prozess systemischer Autopoiesis angesehen (N. Luhmann). Ähnlich der Adaptionsmodelle aus Evolutionstheorie, Biologie und Kybernetik werden Umweltphänomene als „aufstörend“ begriffen, wenn sie einen Informationsverarbeitungsprozess in Gang setzen; mithin auf (Re)Stabilisierung angelegte innersystemische Kommunikation anregen.

Neuere epistemologische und semiologische Begriffsdefinitionen perspektivieren die Kategorie der „Störung“ in Anlehnung an kybernetische Modelle entsprechend als eine Grundvoraussetzung von Kommunikation und „zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion“ (L. Jäger). Es sind „Signale der Störung“ (A. Kümmel/ E. Schüttpelz), die Kommunikationsprozesse nicht nur anregen, sondern auch eine selbstreflexive Dimension einziehen, also Kommunikation über Kommunikation auslösen. Vergleichbare Überlegungen finden sich bereits in der hermeneutischen Theoriebildung. Nach H.G. Gadamer wird jede „Anstrengung des Verstehenwollens“ durch die „Gestörtheit des Einverständnisses“ im dialogischen Informationsaustausch ausgelöst. Diskursanalytische Ansätze formulieren derartige Erkenntnisse mit Blick auf Gesellschaften. Dabei wird die Irritation von Toleranzgrenzen zu einem wesentlichen Mittel von gesellschaftlichem Wandel insofern, als fortwährende „Denormalisierungen“ (J. Link) ein beständiges Ausloten bestehender kollektiver Konsensus herausfordern.

Begreift man gesellschaftliche Grenzziehung in diesem Sinn als integrative und  stabilisierende semiologische Leistung kollektiver Kommunikationsprozesse und „Grenze“ mithin als flexible diskursive Größe, so lassen sich die auslösenden wie markierenden Faktoren mit der elementaren Kategorie der „Störung“ fassen. Störungen sind nach a) Intensität, b) ihrem Raum (‚Ort’ der Störung) und c) der Zeit ihres Auftretens unterscheid- und wahrnehmbar.

Störungen entfalten ihre Wirkungspotenzen von einem intersystemischen medialen Zwischenraum aus. Eine systemtheoretisch orientierte Kulturwissenschaft belegt den Grenzbereich zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen entsprechend allgemein mit dem Begriff ‚Kultur’ und rechnet Kulturpraktiken als integrative Kommunikationsformen zu den bedeutenden „intermediären Instanzen“ struktureller Kopplung. Danach erscheint Kultur nicht mehr primär als fundierter und fundierender Überbau einer Gesellschaft, sondern als ein „Austragungsort“ permanenter „symbolischer Machtkämpfe“ um den „Geltungsradius“ unterschiedlicher Systemrationalitäten (A. Koschorke). ‚Kultur’ bzw. das kulturelle Feld lässt sich daher weiter als einer jener „Dritten Räume“ ungebändigter Kommunikation (H. Bhabha) auffassen, in bzw. auf dem es (gegenwärtig) zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen kommt. Insofern ist Kultur über Grenzen definiert, die „nicht nur Ordnung und Chaos, sondern auch Eigenes und Fremdes, Hier und Dort, befriedete und feindliche Sphären trennen“ (H. Böhme). Kultur als Zwischenraum bzw. kulturelle Zwischenräume lassen sich somit auch als ‚Orte der Störung’ beschreiben. In allen Gesellschaften gibt es liminale Räume (V. Turner), die durch eine Entstrukturierung von Ordnung in spezifischer Weise das Durchspielen von Störungen ermöglichen. In Gestalt von Kunst, Musik und Literatur leisten sich Gesellschaften zudem medialisierte Strukturen, deren ‚Störcharakter’ toleriert, synchron in unterschiedlichem Maße kontrolliert und in diachron differenter Skalierung erwünscht ist.

Als kommunikative Konfliktzonen werden kulturelle Zwischenräume von Akteuren bevölkert, die über medial oder performativ sublimierte Formen des Aufstörens dazu beitragen, den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung voran zu treiben. Handlungsrollen und Kulturpraktiken des Störens machen in diesem Bereich modellhaft wie stellvertretend das Infragestellen und Überschreiten der temporär gesetzten Toleranzgrenzen offener Gesellschaften möglich. Mit anderen Worten: Kulturelle Zwischenräume sind der bevorzugte Ort, auf dem Störungen offenbar und gegebenenfalls symbolisch ausgehandelt werden.

Wenn A. Kümmel darauf verweist, dass jede „Theoriegeschichte der Störung [...]  mit den weltweit verbreiteten Tricksterfiguren anfangen muss“, dann ist auf die besondere  Bedeutung von künstlerischen Modellen im Rahmen einer Theorie der Störung verwiesen.  Und in der Tat: Fasst man Kultur  im Allgemeinen – die Literatur und bildenden Künste im Besonderen – als Handlungs- und Symbolsysteme, so wird es möglich eine Verbindung herzustellen zwischen aufstörenden Handlungsrollen im Zwischenraum Kultur und daraus hervorgehenden Texten mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, Gattungen. Wenn in literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive Literatur als eine besondere Form der „Selbstbeobachtung von Gesellschaften“ gilt, dann  gerade deshalb, weil in literarischen Texten in besonderem Maße Störungen und das subversive Unterlaufen von Normen gestaltet und verhandelt werden.

Diese Störungen wiederum sind maßgeblich an spezifische Raum-, Handlungs- und Konfliktkonstellationen gebunden. Es nimmt daher nicht wunder, wenn die Literaturwissenschaft bereits früh auf die Bedeutung verwiesen hat, die der Bewegung von Figuren im Raum zukommt. Entsprechend spielen künstlerische Raummodelle eine herausgehobene Rolle bei der Aneignung und Vermittlung von Wirklichkeit. Über und mit ihnen ist auf die besondere Abbildfunktion wie das Strukturierungspotential von literarischen Texten verwiesen. Dies ist ein Grund, warum Jurij M. Lotman das Textmedium als eine Form von Übersetzung versteht. Als „endliches Modell der unendlichen Welt“ transformiert es komplexe Zusammenhänge in vereinfachte raumbildende Strukturen. Erzählte Welten spiegeln damit auch soziale Grenzziehungen modellhaft wieder. Grenzüberschreitungen als „bedeutsame Abweichung von der Norm“ (J. Lotman) oder „Denormalisierung“ setzen Reflexions- und Handlungsprozesse überhaupt erst in Gang. Auch Michail M. Bachtin betont entsprechend den raumsemantischen Eigenwert literarisch inszenierter Schwellenbereiche als „Orte, an denen es zu Krisen […], zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung“ kommt.

Die Tagung setzt sich unter dem Thema Perturbationen das Ziel, in einem ersten Teil Beiträge zu diskutieren, deren Anliegen es ist, den ‚Begriff Störung’ in den Geistes- und Sozialwissenschaften theoretisch konziser zu fassen. Auch mit Blick auf Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung, wird der Versuch unternommen, weitere Schritte auf dem Weg hin zu einer allgemeinen ‚Theorie der Störung’ zu gehen. Darüber hinaus kann es in Verbindung mit dem „Prinzip Störung“ um folgende vertiefende kulturgeschichtliche Fragen gehen:

Während die historischen Avantgarden, ihre Akteure und künstlerischen Erzeugnisse, sowie die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des frühen 20. Jahrhunderts für die hier aufgeworfenen Fragestellungen einen so dankbaren wie erschöpften Untersuchungsgegenstand darstellen, fehlen systematisierende Darstellungen zum Störungsparadigma sowohl für die Zeit vor 1880 als auch zur sogenannten postavantgardistischen Phase von den 1960er Jahren, über die Zäsur von 1989 bis zur Gegenwart. Dabei scheint in diachroner Perspektive die Frage nach künstlerischen Strategien des Aufstörens in Epochen mit festgezogenen gesellschaftlichen Toleranzgrenzen ebenso ertragreich wie die Erörterung der Positionierungsmöglichkeiten von Autoren in Zeiten beschleunigter massenmedialer Einvernahme und Kommerzialisierung alternativer Lebensentwürfe und Gegenkulturen. Dasselbe gilt in synchroner Perspektive für den Vergleich zwischen den offenen und geschlossenen Gesellschaftssystemen etwa in Zeiten des Kalten Krieges mit ihren pluralen bzw. gelenkten Öffentlichkeiten.

Wenn in der Tat „jeder Trickstermythos“ als „implizite Störungstheorie gelesen werden (muß)“, dann bietet es sich an, eine noch ausstehende Kulturgeschichte und eine Typologisierung derartiger topischer „Figurationen von Störung“ jenseits des Schelmenromans sowie der nordamerikanischen trickster-Tradition zu entwerfen. Dabei geht es um eine epochale Differenzierung, die von der antiken Literatur bis in die Gegenwart reicht.

Da Texte und Bilder, zumal Bilderzyklen immer wieder Zwischenräume gestalten und Grenzüberschreitungen inszenieren, ist nach der narrativen Funktion und handlungstragenden Bedeutung von Randfiguren wie dem Schelm oder dem Narr zu fragen. Insofern geraten unter diesem Aspekt „Figurationen von Störung“ ins Blickfeld. Ein besonderes Interesse dürfte hier intermedialen Spannungsverhältnissen gelten.
So offensichtlich der Bezug auf „Figurationen des Dritten“ und „Dritte Räume“ auch ist, das Schwergewicht der Beiträge sollte in diachroner wie synchroner Perspektive auf die kulturgeschichtliche Rolle wie die text- und bildimmanente Funktion von „Figurationen der Störung“ gelegt werden. Das Spektrum reicht dabei von adoleszenten Aufstörern bis zu terroristischen Zerstörern. An ausgewählten Beispielen lassen sich spezifische Figurationen und Handlungsträger (so z.B. die Figur des „Adoleszenten“, „Homosexuellen“, „Denunzianten“, „Dissidenten“, „Intriganten“, „Psychopaten“, „Perversen“, „Terroristen“ etc.) ebenso wie deren spezifische Stör- und Subversionspotentiale untersuchen.
Störungen sind allerdings nicht nur als ‚Signatur’ der Künste aufzufassen, sondern entfalten auch in Religionen und religiösen Bewegungen mit ihren verstörenden, aus der Peripherie ins Zentrum wirkenden, die Konversion einfordernden, visionären Gründergestalten ihre zunächst normalitätssprengende Kraft, erscheinen später als systembildendes und ordnungsstiftendes Erzählmuster.

Um Störung als ein allgemeines Prinzip zu markieren, strebt die Tagung einen interdisziplinären Austausch an. Beiträge aus allen wissenschaftlichen Disziplinen, die das Phänomen der Störung zum Forschungsgegenstand haben und an einem Austausch mit den kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen der Veranstalter interessiert sind, sind deshalb ausdrücklich erwünscht.

Norman Ächtler, M.A.
Universität Gießen
FB05 Sprache, Literatur, Kultur
Institut für Germanistik
Literatur-und Medienwissenschaft

Otto-Behaghel-Strafle 10B
Raum 132
35394 Gieflen

Tel.: +49 / (0)641 / 99-29084
E-Mail: norman.aechtler@germanistik.uni-giessen.de

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