Kunstabteilung - Department of the Arts - Part 9

posted by Bela Rasky on 2006/06/14 02:57

[ Kunstabteilung - Department of the Arts ]

12. Juni 2006, 17:58, NZZ Online

«Nur die Phantasie muss gezündet werden»
Zum Tod des Komponisten György Ligeti

Über Grösse in der Kunst lässt sich trefflich streiten. Ein Blick auf die Musikgeschichte zeigt, dass gerade Bewertungen von Komponisten über die Jahrhunderte hinweg starken Schwankungen unterworfen waren ? man denke nur an die Rehabilitierungen von Bach um 1830 und von Mahler nach 1960. Nur selten sind sich bereits die Zeitgenossen über die Bedeutung eines Künstlers so
einig, wie sie es bei Beethoven oder, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nennen, bei Olivier Messiaen waren. In diesen erlauchten
Kreis gehört zweifellos auch György Ligeti, genoss er doch schon zu Lebzeiten den Ruf eines überragenden Neuerers, ja des originellsten Komponisten unserer Zeit.

 

Dieser Ruhm gründet sich im Wesentlichen auf eine Reihe von Werken, die zu unangefochtenen Klassikern des späten 20. Jahrhunderts avanciert sind. Zu nennen sind hier etwa die Orchesterstücke «Apparitions» und «Atmosphères», mit denen Ligeti
Anfang der sechziger Jahre seinen Durchbruch erzielte, sowie «Lux aeterna» (1966) und das Requiem von 1965, die Stanley Kubrick für
seinen revolutionären Film «2001: Odyssee im Weltraum» verwandte und damit auch Menschen bekannt machte, die mit neuer Musik kaum
jemals in Berührung gekommen wären. Wichtiger war jedoch der Einfluss, den diese ebenso revolutionären Kompositionen auf die
Entwicklung der Avantgarde ausübten. Mit ihrer Betonung der Klanglichkeit und des Klangraumes, ihrem Sinn für oszillierende, schillernde und irisierende Hell-Dunkel-Wirkungen wies Ligeti
einen Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die dodekaphone und in der Nachfolge von Webern und Boulez zunehmend seriell bestimmte Musik der Nachkriegszeit manövriert hatte.

Das geschärfte Bewusstsein heutiger Komponisten für den Klang und seine vielfältigen Phänomene dürfte massgeblich auf Werke wie «Atmosphères» oder auch «Lontano» von 1967 zurückgehen.

Illusionsmusik

Bezeichnend für Ligetis gesamte Ästhetik wird jedoch, dass er bei der einmal gefundenen Neuerung nicht stehenbleibt, die Mode nicht zur Masche erhebt, sondern sie lediglich als Stufe zur
Weiterentwicklung begreift. Vor allem das Prinzip der Mikropolyphonie, exponiert in «Apparitions», «Atmosphères» und den «Volumina» für Orgel, erweist sich als zukunftsweisend. Die Klangwirkungen dieser Werke beruhen nämlich nicht ausschliesslich auf liegenden Cluster-Flächen oder starr ausgehaltenen Akkorden, sondern auf einem changierenden Gewebe von zwanzig und mehr
Stimmen, die sich so eng verschachteln, dass «die einzelnen Stimmen als solche nicht mehr wahrnehmbar sind» und nur das ganze Gewebe «als übergeordnete Gestalt» (Ligeti) vom Hörer erfasst
wird.

Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zu jener genuinen Ästhetik des Illusionären, die Ligeti in seinem bahnbrechenden Cembalostück «Continuum» (1968) entfaltet. Darin werden wechselnde, immer gleich schnell ablaufende Bewegungsmuster
derart übereinander geschichtet, dass der Einzelton für das Ohr kaum mehr erkennbar ist. Wie in der Geometrie entsteht somit aus vielen Einzelpunkten - den extrem komprimierten Tonfolgen - ein grösseres Gebilde, ein Kontinuum im Wortsinne, das anstelle von
Geschwindigkeit den genau gegenteiligen Eindruck von Statik suggeriert. Zu Recht brachte Ligeti diese Form von Illusionsmusik später mit den optischen Täuschungen eines Maurits C. Escher in
Verbindung. Musikalische Vexierbilder, oftmals angesiedelt in den Grenzbereichen des technisch Machbaren, und eine Vorliebe für das
Uneindeutige, Visionär-Utopische durchziehen Ligetis gesamtes späteres Schaffen und manifestieren sich besonders eindringlich
in den ab 1985 sukzessive vermehrten Klavieretüden; sie schreiben die von Chopin, Liszt und Debussy geadelte Tradition der technischen Studie fort, sind aber zugleich ein Kompendium der wechselnden Techniken in Ligetis eigenem
Komponieren.

Lust am Wandel

Bei wenigen Künstlern, Picasso und Strawinsky ausgenommen, erscheint diese Lust am ständigen Wandel - am gleichsam perpetuierten Experiment - derart ausgeprägt. Ligetis waches
Interesse an den neuesten Strömungen in Naturwissenschaft, Mathematik und Informatik, aber auch in der Ethnomusikologie findet darin seinen Niederschlag. Als er beispielsweise im Herbst 1982 erstmals mit der Musik zentralafrikanischer
Volksstämme konfrontiert wird und im Jahr darauf die fraktale Geometrie Benoît Mandelbrots kennen lernt, macht er sich die Anregungen umgehend zunutze und leitet sogar eine tiefgreifende
stilistische Neuorientierung ein. «Ich stelle mir eine stark affektive, kontrapunktisch und metrisch sehr komplexe Musik vor, labyrinthhaft verästelt, mit durchhörbaren melodischen Gestalten, doch ohne jeglichen -Gestus, nicht tonal,
doch auch nicht atonal», so umreisst er seine Position.

Diese Ästhetik jenseits von Avantgarde und Postmoderne umschliesst sowohl den freien Rückbezug auf die Tradition wie im
Horntrio von 1982 als auch die fortgesetzte Suche nach neuen Möglichkeiten, wie sie Ligetis Experimente mit Polyrhythmik, Vierteltönen und nichttemperierten Tonsystemen beispielsweise in
seinen beiden Konzerten für Klavier (1986/87) und Violine (1990/92) bezeugen. Voraussetzung dafür ist eine Unabhängigkeit von allen kompositorischen Dogmen, ja ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder Art von Ideologie.

Bei einem Künstler jüdischer Abstammung, dessen gesamte Familie deportiert wurde, dessen Vater und Bruder im KZ umkamen und der selbst 1956, mit 33 Jahren, vor der Drangsalierung durch die
ungarischen Sozialisten ins lebenslange Exil fliehen musste, ist solcher Argwohn indes nur verständlich. Er prägt freilich Ligetis
gesamte geistige Welt, impft ihm Abscheu ein gegen falsches Pathos, Heroismus und Sendungsbewusstsein und lässt ihn seine gedankliche Heimat viel eher bei Franz Kafka und dem Dadaismus eines Hans Arp oder Kurt Schwitters finden, begeistert ihn für die Pop-Art und Boris Vian, für Alfred Jarrys «Ubu Roi», der in Ligetis surrealer Oper «Le Grand Macabre» nachwirkt, und nicht zuletzt für Lewis Carroll, dessen «Alice im Wunderland» schon in
den «Aventures» und dem Zweiten Streichquartett herumspukt und sogar als ein zweites Opernsujet in Betracht gezogen wird. An solchen vieldeutig zwischen rationalem Kalkül und grenzenloser
Imaginationskraft angesiedelten Stoffen e!
ntzündet sich Ligetis schöpferische Phantasie. Und in einer Zeit, die alle verbindlichen Normen in der Kunst nivelliert, ist es ihm mit diesem gelebten Plädoyer für kreativen Pluralismus fraglos gelungen, «etwas von unserem heutigen Lebensgefühl in Musik neu entstehen zu lassen».

Christian Wildhagen

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Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
http://www.nzz.ch/2006/06/12/fe/newzzEOD0GWA8-12.html

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Antworten

Budapest

A picture from the heydays of liberal Budapest - when a whole (though short) underground line could be built within two years. And M1, the famous "Földalatti", Budapest's yellow line, still works. I have never seen this image of the construction on Andrássy before, so be full of admiration - and I am not telling your where it is from...

The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)

Budapest has – together with St. Petersburg and Vienna – one of the largest tramway networks of the world. The tramway type "UV" – standing for "Új villamos - New tramway" and pictured above – was designed in the early forties and is still a symbol for Hungary's once high-tech railway-carriage industry. With the arrival of the new low-floor-trams in spring 2006 – built by Siemens in Vienna and not too beautiful – this landmark of Budapest will vanish from the cityscape.
György Petri: Imre Nagy

Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts

vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung des Stricks, von der letzten Schmach.

Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,

wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,

als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.

Übersetzt von Hans-Henning Paetzke

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