2008-07-12
Georg Wieser, Ein Staat stirbt
Folgender Blog passt sicher nicht zum Topic "Budapest", allein ich möchte damit meine neue Rubrik "Wiedergelesen" eröffnen: Alte Bücher, die mit Österreich, Mit Ungarn, Mitteleuropa, also Kakanien im weitesten Sinn zu tun haben und meiner Ansicht nach neu gelesen werden müssten, und die ich ab jetzt hier – je nach Lust und Laune und Lesegewohnheit – führen werde.
Begonnen werden soll mit dem Buch eines Georg Wieser mit dem Titel "Ein Staat stirbt", auf deutsch erschienen 1938 in Paris.
Es ist halt ein G'fret
Weil es ja sonst im ungarischen Feuilleton immer so geistreiche Kommentare gibt, hat mich überrascht, dass folgender Umstand bis jetzt meines Wissens niemandem aufgefallen ist:
Als Abschluss der Gay-Pride-Parade am Samstag wurden die Teilnehmer des von gewalttätigen, rechtsradikalen Gegendemonstranten begleiteten Aufmarsches vom Heldenplatz in Sonderzügen der – während des Demonstrationszuges gesperrten – U-Bahn zum Deák tér transportiert, um sie für den Fall eines Abganges in Einzelgruppen vor Übergriffen zu schützen. "Hirszerzö" bezeichnet diese Aktion als eine geistreiche Idee der Budapester Polizei: Allein, wie erfolgreich sich damit letztlich die Faschisten zeigten, sieht niemand: die Homosexuellen wieder in den Untergrund abgedrängt, die Neonazis oben, was wohl nicht Sinn der Demo ist...
Und dann zwei Kommentare in der heutigen Népszabadság zum 5. Juli 2008 – in einer deutschen Übersetzung – weiter unten:
Budapest

The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)


Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts
vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung
des Stricks, von der letzten Schmach.
Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,
wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,
als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke
