Georg Wieser, Ein Staat stirbt
[ Neu gelesen ]
Folgender Blog passt sicher nicht zum Topic "Budapest", allein ich möchte damit meine neue Rubrik "Wiedergelesen" eröffnen: Alte Bücher, die mit Österreich, Mit Ungarn, Mitteleuropa, also Kakanien im weitesten Sinn zu tun haben und meiner Ansicht nach neu gelesen werden müssten, und die ich ab jetzt hier – je nach Lust und Laune und Lesegewohnheit – führen werde.
Begonnen werden soll mit dem Buch eines Georg Wieser mit dem Titel "Ein Staat stirbt", auf deutsch erschienen 1938 in Paris.
"Georg Wieser, Ein Staat stirbt. Österreich 1934-1938" - wirft die Suchmaschine des Katalogs bis 1992 in der "Österreichischen Nationalbibliothek" aus – natürlich nicht unter den mir so logisch erscheinenden Schlagwörtern "Österreich", "Ständestaat" und/oder "Austrofaschismus", sondern "Österreich" und "1934-1938". Wer denkt schon daran, Jahreszahlen in einen Katalog einzutippen: Ich zumindest nicht, vor allem nicht mit einem Bindestrich: Ja, man muss das Buch eigentlich kennen, oder darüber wissen (und auch ich bin nur über das klassische Bibliographieren darauf gestoßen), um es zu finden. Und so gefunden, bestelle ich es auch. Dabei war Leichter einer der bedeutendsten Publizisten der SDAPÖ in der Zwischenkriegszeit, publizierte im "Kampf" und in der "Arbeiter-Zeitung", war einer der Mitbegründer des "Verbandes der sozialistischen Studenten" und nach 1934 ein führender Exponent und Theoretiker der sozialdemokratischen Emigration bzw. Widerstandes im Land selbst, und einer der wichtigsten Berichterstatter des großen Sozialistenprozesses 1936. Unter dem Pseudonym "Pertinax" veröffentliche er unmittelbar nach dem 12. Februar 1934 schon in Zürich einen Band zur Vorgeschichte und Geschichte des Februarkampfes, sowie eine Fülle anderer kleiner Broschüren über die Lage im austrofaschistischen Österreich - so das unter dem Tarntitel "Das schöne Österreich" angeblich beim österreichischen Reiseverkehrsbüro 1937 erschienene Büchlein - "angeblich", weil es berufen war, die österreichische austrofaschistische Zensur zu täuschen - , und das wohl eines der authentischesten Stimmungsbilder für das Österreich der Jahre zwischen 1934 und 1938 und seiner staatlichen Repression bietet. 1938 flüchtete Leichter zuerst nach Belgien, dann nach Frankreich, 1940 weiter in die USA. Nach dem Krieg kehrte er kurzfristig nach Österreich zurück, zeigte sich aber vom Rechtskurs der neuen SPÖ enttäuscht und kehrte 1949 in die USA zurück, von wo er dann regelmäßig als Korrespondent für die Arbeiter-Zeitung tätig war. Er starb 1973 in New York. "Ein Staat stirbt" ist kein wissenschaftliches Buch, aber was ist schon wissenschaftlich, und Leichter oszillierte zudem mit seinen Werken ständig zwischen Essay, Journalismus und Wissenschaft: Die Untergrundpublikation "Das schöne Österreich" hat etwas Feuilletonistisches, sein "Versuch einer Berufständischen Gewerkschaft. Der Gewerkschaftsbund der österreichischen Arbeiter und Angestellten, 1934-38" in der "International Review for social history. 4/1939" ist streng wissenschaftlich und extrem trocken, schwer zu lesen. "Ein Staat stirbt" liegt irgendwo dazwischen, ist Beschreibung und Analyse zugleich, vielleicht noch mehr eine politische Anklageschrift über das Versagen einer reaktionären Elite, die in ihrer Unfähigkeit und Verblendung ins eigene Verderben rennt und über die das Versagen der westlichen Demokratien, und dennoch ist es wohl einer der dichtesten, schärfsten und klarsten Beschreibung des "Finis Austriae", die ich je gelesen habe. Das Vorwort ist nicht mehr und nicht weniger als ein Stimmungsbild der späten Märztage 1938, jenes kollektiven Exzesses, der heute mit dem Begriff "Heldenplatz" zum großen Anti-Thema der späten Zweiten Republik geworden ist – doch es wird hier anders beschrieben als heute üblich, wo unter dem Deckmäntelchen des kollektiven und "alle waren dabei", die – mag sein - Mehrheit ex-post so nur kollektiv exkulpiert wird: Inmitten des massenhaften Taumels tauchen bei Leichter zumindest Momente eines - auch - öffentlichen Missfallens auf, Blicke, Gesten, Verweigerungen, die den Exzess zumindest relativieren – und jenen, die im Taumel sind, klar machen, dass es auch andere Stimmungslagen gibt und gab – wie auch uns, den Lesern wiederum klar werden muss, dass es Widerstand oder eben nur Missfallen eben auch inmitten des Exzesses gegeben hat, etwas was wir ja tunlichst doch vergessen sollen. In 29 weiteren, kurzen, maximal sechs Seiten umfassenden Kapiteln erzählt nun Leichter die Geschichte der österreichischen Diktatur wie eine Kriminalgeschichte: Das Buch liest sich dabei schnell, es packt, reißt mit sich wie kaum ein anderes – und obwohl es inzwischen zahlreiche Darstellungen der vier Jahre hauseigenen Diktatur gibt, existieren wohl wenige so klare und geraffte Darstellungen: Perspektiven und Propenenten wechseln im raschen Tempo, der Beschreibung folgt die Analyse, der Anklage das Urteil. Und man spürt mit welcher Emotion, mit welcher Verve – und mit welcher Angst und Sorge es geschrieben ist. Es geht um alles. Man kann es vielleicht doch noch verhindern – es ist Sommer 1938. Das Kapitel über Engelbert Dollfuß packt mit seiner dichten Beschreibung einer Person, die von den Ereignissen mitgerissen wird, aber angetrieben wird von einer Idee, den Gegner ausschalten zu müssen; die Kapitel "Das Regime im luftleeren Raum", "Bilder aus der Illegalität", "Sah niemand die Gefahr?" oder "Der Aufbruch der Arbeiter" sind einzigartige Stimmungsbilder und bis heute gültige politische Analysen ihrer Zeit, die Abschnitte über den von Hunderttausend Arbeitern unterfertigten offenen Brief der Betriebsvertrauensmänner der illegalen freien Gewerkschaften an Schuschnigg, die Passage darüber, dass Schuschnigg noch im Herbst 1937 Sozialdemokraten verhaften ließ, während die "Volkspolitischen Referate" in seiner "Vaterländischen Front" nach dem Juliabkommen 1936 mit Nazi-Deutschland bereits offen an der Unterwanderung eines unabhängigen Österreichs arbeiten dürfen, klare Analysen der politischen Blindheit und ideologischen Verschrobenheit des austrofaschistischen Systems und seiner Eliten. In der Darstellung der letzten Atemzüge des Regimes, der Februar- und Märztage 1938 verdichtet sich schließlich das Buch zu einem furiosen Ende voller Spannung. Erschüttert, wütend liest man über die Stimmung in Wien, die nicht so eindeutig ist, wie man aus der Endperspektive "Heldenplatz" heute die Lage sieht, über die Schwierigkeiten der Nationalsozialisten in einigen Wiener Bezirken ihre Propaganda zu entfalten, über verpasste Möglichkeiten, über das schuljungenhafte Auftreten Schuschniggs in Berchtesgaden, über den Kleinmut einer sich als Elite gerierenden sozialen Gruppe, die zutiefst unfähig ist, "leadership" an den Tag zu legen, selbst als die Entdeckung des Tavs-Plans – eines Putschplans zur vollen Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich im Jänner 1938 - anlässlich einer Hausdurchsuchung gewissermaßen einen "aufgelegten Elfmeter" für einen Hilferuf Österreichs an die Westmächte liefert. Eines zerplatzt angesichts dieses Buches mit Sicherheit wie eine Seifenblase: Der angebliche Widerstand des Ständestaates gegen die Hitlerei. Die zahlreichen offenen und versteckten Kontaktfühlungen von Engelbert Dollfuß in Richtung Berlin 1933/34, die inzwischen ja auch dokumentarisch und archivalisch belegt sind, die Ereignisse, die zum Juli-Abkommen 1936 führen, bis hin zur fast vollkommenen Selbstaufgabe des Regimes 1937, zeigen eher das Gegenteil, den krampfhaften Versuch eine Art "modus vivendi", einen Ausgleich a tout prix zu finden, aber keinen Widerstand – und den eisernen Willen die Freiheitsrechte weiterhin einzuschränken. Aufgezeigt wird natürlich auch das zögerliche Verhalten der westlichen Demokratien, die zum Beispiel warnende Stimmen, wie jene des britischen Außenministers Anthony Eden, nicht hören wollten und bereit waren alles einem vermeintlichen "appeasement" zu opfern. Das Buch schließt irgendwann im Sommer 1938, als sich Hitler gerade an die Zerschlagung der Tschechoslowakei machte, mit einem dramatischen Appell, damit den letzten freien Staat der Region nicht dasselbe Schicksal ereile wie Österreich. Hoffnung knüpfte Leichter hier eben an die demokratischen Grundstrukturen, dass es in der Tschechoslowakei – nicht so wie in Österreich - eben noch etwas zu verteidigen gab, auch wenn man eine fünfte Kolonne in Form der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins ebenfalls schon im eigenen Staat hatte. Und so sah er angesichts des klaren, in der Mobilmachung auch militärischen Verteidigungswillens der Tschechoslowakei einen kleinen Hoffnungsschimmer. Allein mit dem Münchner Abkommen, einige Monate nach Erscheinen des Buches, hatten England und Frankreich auch noch ihren letzten Bündnispartner in Mitteleuropa am Altar der Entspannung mit Hitler geopfert. Wenn die Tschechoslowakei fällt, wird es Krieg geben, meinte Leichter: Er hat sich nur um einige Monate geirrt. Im elektronischen österreichischen Gesamtkatalog scheint das Werk übrigens kein einziges weiteres Mal auf. Abgesehen von einigen kleineren, eher versteckten Bibliotheken ist es daher wahrscheinlich in Österreich in einer weiteren großen Bücherei wohl kaum zugänglich: Das Buch existiert also einfach nicht, ein österreichisches "non-livre" sozusagen - obwohl es wahrscheinlich wenige Werke gibt, die entscheidende Jahre der österreichischen Zeitgeschichte so dicht, so klar, aber sicherlich auch so parteiisch beschreiben: Parteiisch für die Demokratie und die Freiheitsrechte der Bürger. Warum es keinen Reprint gab und gibt, wissen wahrscheinlich auch nur die Götter. Wahrscheinlich verstieß es zu lange gegen eine Staatsdoktrin, war dann vergessen, und widerspricht heute wahrscheinlich wieder vielen Grundmaximen österreichischer Zeitgeschichte. Bleibt also nur die Hoffnung, es vielleicht doch einmal auch außerhalb des Augustinersaales und ohne Zwirnhandschuhe in die Hände nehmen zu dürfen: Kopieren oder scannen darf man das Buch auf der Nationalbibliothek auf jeden Fall nicht, natürlich aus rein konservatorischen Gründen.
"Klick, klick", drücke ich die Knöpfe, und irgendwie beim letzten Klick bekomme ich aus den Augenwinkeln noch mit, dass da am Ende des Vorgangs ein anderer Lesesaal zur Benutzung des Werkes angeführt war. Komisch, denke ich, Lesesaal 8 - was ist das schon wieder: Augustinerlesesaal, die heiligen Hallen der alten Nationalbibliothek für ein kleinformatiges Buch aus dem Jahr 1938?
Nach einigen Tagen mache ich mich auf den Weg zum Josefsplatz, der Mann an der Bücherausgabe gleich neben den Prunksälen sucht und sucht: Nichts. "Wann haben Sie es den bestellt?" "Vorgestern", lüge ich. "Nein, ich habe nichts." "Aha, es hatte so eine komische Signatur: 'Rara', oder so!", sage ich noch. "Ja, warum sagen's das nicht gleich", murmelt er, zieht sich Zwirnhandschuhe an und bewegt sich in Richtung eines Stahltresors, den er mit einem gewaltigen Schlüssel langsam öffnet: "Ah, da hammas ja." Vorsichtig nimmt er das kleine Bändchen heraus, legt mir nun ebenfalls Zwirnhandschuhe auf den Tresen: "De müassns anziegn!" Dann hievt er ein riesiges Benutzerhandbuch heraus, trägt sorgfältig Signatur, Autor, Titel, Benutzername, Datum und Uhrzeit, meinen Jahreskartencode ein, lässt mich alles unterschreiben und händigt mir schließlich das Buch aus, um unmittelbar danach per Telefon jemanden zu informieren, dass jetzt "aner kummt", und zwar "mit aner teiren Rarität". Ich gehe vor in den Lesesaal, wo mich schon eine Dame erwartet, selbstredend in Zwirnhandschuhen, mir das Buch abnimmt, mich lächelnd zu einem Platz in ihrer unmittelbaren Umgebung, eigentlich ihrem Arbeitsplatz gegenüber, (ge)leitet, geheimnisvoll eine Schaumstoffunterlage auf den Tisch legt, das Buch mit Vorsicht – als wäre es teuerstes Porzellan oder der Koran, die Bibel oder der Talmud – draufplatziert, um mich es dann endlich benutzen, also lesen, zu lassen.
Niemand, so stelle ich gleich fest, hat das Buch vor mir noch je in der Hand, oder wohl besser in den Zwirnhandschuhen, gehabt, der Buchrücken ist noch hart und jede Seite muss ich gewissermaßen fest drückend umblättern, ja knicken, danach entlang streichen, damit es nicht wieder zurückfällt. "Georg Wieser" steht da, "Ein Staat stirbt. Österreich 1934-1938", "Editions nouvelles internationales: Paris 1938". Natürlich weiß ich, und nicht nur dank des ÖNB-Katalogs, dass Georg Wieser ein Pseudonym für Otto Leichter ist. Das Buch – so erfährt man auf der Internetseite "Austrofaschismus", wo auch ein Textauszug, das Kapitel über Engelbert Dollfuss, zu lesen ist, ( wurde in Österreich aber nie, ja richtig: nie, vertrieben, und nur einige Emigrantinnen haben es erworben.
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Budapest
The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)
Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts
vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung
des Stricks, von der letzten Schmach.
Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,
wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,
als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke
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