Kunstabteilung - Department of the Arts

posted by BR on 2006/03/20 16:08

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Sturmflut am Balaton
Ein Besuch beim ungarischen Schriftsteller Péter Zilahy

Mit dem Roman «Die letzte Fenstergiraffe» hat der junge ungarische Autor Péter Zilahy eine literarische Geschichtsbetrachtung angestellt, die vor allem im östlichen Europa als Leitfaden zur friedlichen Revolution gelesen wurde. Das Buch wurde mittlerweile in achtzehn Sprachen übersetzt. In Budapest lebt Péter Zilahy mit panoramischem Ausblick.

Budapest ist eine Stadt in Brailleschrift. Am aufgebrochenen Asphalt kann man die Strassen erkennen. Auch die Hóvirág út, die hinaufführt zu Péter Zilahys Haus. Über die Löcher streitet das liberale Stadtparlament mit der rechten ungarischen Regierung. Und so tut erst einmal niemand etwas. Nur die Budapester machen Witze.

 

Aber auch hier auf dem Széchenyi-Hügel ist der Aufschwung des postkommunistischen Ungarn ablesbar. Wo früher das schlichte Refugium des Urgrossvaters in einem weiten Obstgarten stand, hat Péter Zilahys schwerreicher Bruder einen runden Wohnturm hingebaut. Es ist ein Turm, wie er nicht besser zum jungen ungarischen Schriftsteller passen könnte. Auf dem Dach gibt es einen gläsernen Ausguck. Von hier aus schaut man über Budapest und über die Welt. Die Ferne ist für Péter Zilahy das Naheliegendste.

Revolutionsalphabet

Das heroisch gewellte Haar wirft Péter Zilahy zurück, wenn er von den Gefahrenzonen seines Lebens erzählt. Im Bosnien der neunziger Jahre habe er einmal, ohne es zu wissen, ein Minenfeld durchquert. In den finsteren Spelunken von Buenos Aires hat er gelernt, Tango zu tanzen. Einem betrunkenen chinesischen Gefängniswärter ist der junge Ungar ebenso knapp entkommen wie den stürmischen Fluten des Balaton. Hat er erwähnt, dass er einige Zeit seinen Lebensunterhalt durch Kasinobesuche bestritten hat? Er hat. Und auch, dass es namhafte Berliner Autoren gibt, die sich schmerzlich ans Glück des Ungarn beim Glücksspiel erinnern. Wenn Péter Zilahy seine Geschichten erzählt, dann klingt es, als hätte die Wirklichkeit selbst extemporiert. Als wäre sie für Augenblicke genauso befreit mit den Tatsachen umgegangen wie der erste Roman des Budapester Schriftstellers. «Die letzte Fenstergiraffe», 2004 auf Deutsch erschienen und bis jetzt in achtzehn Sprachen übersetzt, ist ein «Revolutionsalphabet», von A bis Z, von Ablak bis Zsiráf. Das Buch handelt von den Belgrader Protesten gegen Slobodan Milosevic in den späten neunziger Jahren, aber es hat keine Scheu, sich in den Weiten der europäischen Geschichte umzutun. «Die letzte Fenstergiraffe» ist eine Burleske, in der die historischen Figuren keine grösseren Privilegien geniessen als der Ich-Erzähler. Und der hat mit Péter Zilahy nicht nur die Biografie gemein.

Landung in Budapest

Zilahys Blick ist das Panorama. Vom Dach seines Hauses sieht der Schriftsteller hinunter auf die im Nebel liegende Stadt und auf die Donau mit ihren Brücken. Hügelabwärts, wo vor ein paar Jahren noch Mandelbäume standen, haben sich billig gebaute Villen breit gemacht. Gleich nebenan ist der alte Friedhof, auf dem Péter Zilahys Grossvater liegt. In seine Geschichten aus der mitteleuropäischen Geschichte hat Zilahy den rechtschaffenen Mann hineinretuschiert. Fröhlich subversive Menschen wie dieser Grossvater tauchen in der «Letzten Fenstergiraffe» auf, bis die historischen Grössen neben ihnen verblassen. Ist nicht überhaupt die jüngere ungarische Vergangenheit auch Péter Zilahys Biografie? Das kommunistische System hatte sich überlebt, als die Kindheit des 1970 geborenen Schriftstellers zu Ende ging. «Die Macht war geschrumpft, und ich war erwachsen.» So ist das. Im Osten ist man dankbar für so viel Selbstbewusstsein. In der Ukraine, wo die «Fenstergiraffe» während der «orangen Revolution» zum «Buch des Jahres» wurde, hat man den Roman dankbar als Anleitung zum zivilen Ungehorsam gelesen.

Péter Zilahys Turm ist kein Elfenbeinturm. Der Schriftsteller wurde in den letzten Jahren auf internationalen Podien herumgereicht. Das leichtfüssige historische Wissen des jungen Ungarn stolpert dabei niemals über den Ernst der Debatten. Es ist eine Budapester Ironie, wie sie auch Péter Esterházy beherrscht. Von Esterházy kam also nicht ohne Grund höchstes Lob für den jungen Kollegen. «Wenn ich schwebe, werde ich immer in Budapest landen», sagt Péter Zilahy, und er landet immer sanft an seinen Lieblingsorten in der Metropole. Das türkische Rudas-Bad, das aus dem 16. Jahrhundert stammt, ist nicht ohne Grund auch der Rückzugsort des Revolutionshelden der «Fenstergiraffe». Im Zwielicht des Wasserdampfes herrscht zeitenthobene Kontemplation. Wenig hat sich hier in den letzten fünfhundert Jahren geändert. Auch wenn heute neben den älteren Herren die Budapester New Economy im klassenlosen Leinenschurz durchs Schwefelwasser treibt.

Die Budapester Lokale, in die Péter Zilahy geht, heissen «Transit», «Ellátó» oder «Szimpla». Es gibt sie noch nicht lange, doch sie haben die improvisierte Coolness, die anderswo in den achtziger Jahren einmal modern war. Hier lehnen die jungen Budapester Männer an der Bar und schauen drein, als sei Biertrinken ein seriöses Geschäft. Er kann Ungarns Melancholie verstehen, auch wenn sie ihm selbst fremd ist, sagt Péter Zilahy beim Wein. Von ernsteren Kollegen wie dem gerade auch in Deutschland reüssierenden Attila Bartis würde er sich in Sachen Ironie wohl unterscheiden. Aber der Humor, früher die Waffe gegen das System, sei den Ungarn ganz allgemein abhanden gekommen. Es werde nicht mehr gelacht in diesen erfolgreichen Zeiten, und Péter Zilahy erzählt von den unfreiwillig komischen Paradoxien der einstmals real existierenden Macht. Von einer Kindheit, in der nichts so schwarzweiss war wie das staatliche Fernsehen.

Péter Zilahy betreibt sein literarisches Geschäft mit unangestrengter Energie. Er müsse sich selbst bremsen, wenn die Assoziationen auf ihn einstürmten und das Erlebte mit grosser physischer Macht in seine Zeilen dränge. An Druckausgleich mangelt es allerdings nicht. Péter Zilahy hat in aller Welt Performances gemacht, er fotografiert, und er gibt beim Budapester JAK-Verlag eine «weltliterarische Reihe» heraus. Was so betulich klingt, sind Nachrichten aus der jungen europäische Literatur. Ins Ungarische übertragene Bücher von Ingo Schulze und Juri Andruchowytsch, Kathrin Röggla, Viktor Pelewin, Jenny Erpenbeck oder Arnon Grünberg. Auf seinen Reisen habe er sich einfach umgehört, was es in anderen Ländern Neues gebe, sagt Péter Zilahy.

Unheroischer Heldentod

Von seinen Reisen hat der Schriftsteller auch Reportagen mitgebracht, die zeigen, wie man in anderen Kulturen verschwinden kann, um sich selbst zu finden. Das 2003 auf Deutsch erschienene Buch «Drei» versammelt Gelegenheitstexte dieser Art und einen lyrischen Traum vom unheroischen Heldentod: «In Socken sterben». Péter Zilahys nächster Roman soll von einem Mann handeln, der weit gereist ist. Von einem, dem es nur unter Abenteuern gelingt, nach Hause zurückzukehren. «Es geht um Liebe und Tod. Selbstverständlich ist das auch autobiografisch», ruft der ungarische Schriftsteller noch und verschwindet dann in seinem Turm. Es ist kalt in Budapest. Anderntags meldet Péter Zilahy aus Rom zwanzig Grad plus.

Paul Jandl

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2006/03/20/fe/articleDOE67.html

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG

 

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Budapest

A picture from the heydays of liberal Budapest - when a whole (though short) underground line could be built within two years. And M1, the famous "Földalatti", Budapest's yellow line, still works. I have never seen this image of the construction on Andrássy before, so be full of admiration - and I am not telling your where it is from...

The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)

Budapest has – together with St. Petersburg and Vienna – one of the largest tramway networks of the world. The tramway type "UV" – standing for "Új villamos - New tramway" and pictured above – was designed in the early forties and is still a symbol for Hungary's once high-tech railway-carriage industry. With the arrival of the new low-floor-trams in spring 2006 – built by Siemens in Vienna and not too beautiful – this landmark of Budapest will vanish from the cityscape.
György Petri: Imre Nagy

Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts

vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung des Stricks, von der letzten Schmach.

Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,

wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,

als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.

Übersetzt von Hans-Henning Paetzke

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