Bolletik - Part 21
[ Bolletik ]
Feri! Wenn Du gehst, vergiss nicht, Viktor mitzunehmenIn den 1970er Jahren war die nach 1956 blutig restaurierte ungarische KP-Diktatur bereit längst eine sanfte, und 1989/90 gestaltete sich der Übergang vom Staatssozialismus in die Marktwirtschaft mehr oder weniger auf einen konsensualen, wenn auch steinigen Weg der Verhandlungen und Kompromisse zwischen Staatspartei und einer im wesentlichen geeinten demokratischen Opposition. Eine tiefgreifende, über symbolische Gesten hinausreichende "Vergangenheitsbewältigung" wurde von (fast) allen Seiten dabei tunlichst vermieden, hätte dies doch wahrscheinlich zu viel an kaum Bewältigbaren, an Schandtaten, Bösen, Kollaboration, Feigheit und Schweigen ans Tageslicht gebracht – einerlei auf welcher Seite. Als müsste die damals entstandene dritte Republik nun den Preis für diese vielen faulen Kompromisse der Wende bezahlen. Inmitten dieser tiefen politischen Krise scheint die ungarische populistische und extremistische Rechte sechzehn Jahre nach dem Systemwechsel diese Geschichte mit einem Mal komplett überschreiben zu wollen: Genau zum 50. Jahrestag der "kleinen ungarischen Oktoberrevolution 1956" und beschwingt von der "Lügenrede" von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány fordert sie nun – mit der radikalen Rechten liebäugelnd - den radikalen, den eigentlichen Systemwechsel ein, und will nichts weniger als das Verschwinden der exkommunistischen Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) aus dem öffentlichen Leben – einer durch mehrere nationale und lokale Wahlen, durch Regierungsbeteiligungen längst demokratisch legitimierten Partei.
Es gehört zu den großen Gemeinplätzen der Politikwissenschaft und der Medien zu behaupten, Ungarn sei eine politisch zutiefst in zwei Lager gespaltene Gesellschaft. Allein ist dies vorläufig noch nicht endgültig entschieden. Denn es bleibt fraglich, ob der von der politischen Elite grandios arrangierte Kampf auf Leben und Tod, hinter dem die Pfründe und Lehen seit Jahren bereits längst abgesteckt sind, tatsächlich auch in die Tiefen der ungarischen Gesellschaft hineinwirkt. Korruption, Finanzskandale, illegale Parteienfinanzierungen gehör(t)en zur täglichen Politik – mit der dazugehörenden theatralischen Empörung auf der jeweils anderen Seite. Ein gutes Beispiel für diese Empörung ist die (fast) einhellige Aufregung über einen Mob, der das Buffet des ungarischen Staatsfernsehen plünderte, während die politische Elite selbst das ungarische öffentlich-rechtliche Fernsehen seit der Wende systematisch zur Finanzierung der eigenen Parteien missbraucht hat – bis zu seinem kläglichen, journalistischen wie budgetären Bankrott. Aber kein Zweifel: Die Inszenierung dieses Kampfes treibt langsam aber sicher ihre Wurzeln.
Aber noch herrscht Unsicherheit, Widerwillen gegen diese Verpolitisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens. Die ungarische Gesellschaft ist zuvorderst einmal müde: Müde vom ewigen Reformgeplapper, mit dem sie seit der Ölkrise der 1970er Jahre malträtiert wird, und das immer nur in einer Gürtelengerschnallenpolitik, einem kurzfristigem Aufschwung und dann wieder einer Austeritätsansage endet. Sicherlich trägt auch sie in den letzen Jahren zu dieser tiefen Konfrontation bei, indem sie bei Wahlen regelmäßig das Pendel in die eine oder die andere Richtung ausschlagen lässt: Die Stimmen der gemäßigten Parteien, die den Ungarn den jüngst so gerne geforderten "reinen Wein" einschenken, verhall(t)en regelmäßig ungehört oder dümpeln gerade einmal in der Nähe der Fünf-Prozent-Klausel. Niemand will die "Wahrheit" hören.
Die ungarische Gesellschaft ist nicht gespalten, sondern unruhig und verunsichert. Sie spürt, dass es so nicht weitergeht, dass die Kernbotschaft der medial verkürzten Gyurcsány-Lügenrede im Kern nämlich stimmt: Dass die letzten 16 Jahre verpasste Jahre waren, in denen man sich sinnlos um des Kaisers Bart – oder besser: des König Stephans Krone oder des Nationaltheaters Standorts – blutige Köpfe geholt hat, aber nicht um die wirklich anstehenden Fragen diskutiert hat. Nun ist der Druck – und wieder von außen – da. Der Spielraum ist klein. Man hat ihn selbst verspielt.
Und unruhig ist die ungarische politische Elite, weil sie weiß: Setzt sie jetzt nur einen Schritt in die falsche Richtung, reißt sie die ganze ungarische Wirtschaft und damit Millionen Existenzen mit sich, mit uneinsehbaren Folgen letztlich auch für sich selbst.
Irgendwann wird Ferenc Gyurcsány wohl gehen (müssen), allein sein Sparpaket wird – will man nicht die Finanzkatastrophe - sicher bleiben: Bleibt nur zu hoffen, dass er wenigstens nicht vergisst, Viktor Orbán mit sich zu nehmen. Vielleicht gäbe es dann endlich den historischen Kompromiss den Ungarn so sehr braucht – denn eine andere politische Elite wird sich in diesem kleinen Land wohl kaum noch einmal finden lassen.
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Budapest
The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)
Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts
vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung
des Stricks, von der letzten Schmach.
Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,
wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,
als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke
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