Urban Life - Part 36
[ Urban Life ]
Kelenföld
Irgendwann komme ich auf die Idee, als nunmehr echter Budaer, den Zug aus Wien schon in Kelenföld, eine Art Hütteldorf oder Meidling von Budapest, zu verlassen, nicht mehr zwanzig Minuten bis zum Keleti zu zuckeln, unter der Brücke kurz vor dem Keleti stehen zu bleiben, damit man auch garantiert die letzte U-Bahn verpasst – und dann mit letzten Bussen und Straßenbahnen wieder zurück nach Buda zu rattern.
Die Stadler-"Flirts" und Bombardier-"Desiros" , die neuen Vororttriebwagenzüge der MÁV fahren im Halbstundentakt aus Székesfehérvár, Tatabánya und Érd über Kelenföld nach Déli: Warum nicht probieren? 2010 wird Kelenföld mit der M4 ein zentraler Umsteigehub im Nahverkehr, wie schön, ich denke an Lissabon und den Bahnhof "St. Eulelia" von Santiago Calatrava, an Europa und EU-Gelder, an Architektur, oder einer Idee davon.
Aber einmal ausgestiegen, schon vorher natürlich etwas ahnend, weiß ich, Kelenföld ist anders: Lässt der Keleti bei der Ankunft noch irgendwie ein "Verdammt, wohin hat es mich jetzt verschlagen?" im Gedanken zu, dann kommt man in Kelenföld garantiert nicht so weit, denn Kelenföld bläst einem förmlich sofort das Hirn weg. Die Orientierungslosigkeit entrückt in die Sprachlosigkeit, die Fähigkeit etwas zu formulieren entfleucht lautlos. Da steht man in der Finsternis, umgeben von knatternden Lautsprechern, unbeschreiblichem Mief, verloren, verlassen, man lechzt förmlich nach dem Keleti: "Europa! Warum hast Du mich verlassen?" Allein der EuroCity ist längst entschwunden. Kein EU-Geld dieser Erde, kein Stararchitekt kann Kelenföld retten, diese Stätte bleibt städtebaulich eine Wüste. Wenn das Diktum oder Verdikt stimmt, dass die Ungarn nicht einmal putzen können, dann gilt hier: Nicht nur das, sie scheißen auch noch im wahrsten Sinn des Worts drauf. Die hauptstädtische Bürste, wie man hier die MA48, die Müllabfuhr nennt, hat diesen Ort sicher noch nie gesehen, und wenn der Balkan – ebenfalls ein österreichisches Diktum – am Wiener Rennweg beginnt, dann beginnt – in Abwandlung einer Idee von Mitbloggerin Amália Kerekes, hier der Meta-, mehr noch: der Hyperbalkan. Wenn es einen Ort gibt, an dem alle Fehlentwicklungen, Sackgassen und Irrwege der ungarischen Geschichte der vergangenen hundert Jahre zusammenlaufen, dann hier, im Panoptikum Kelenföld. Das Panoramabild über die ungarische Landnahme in Ópusztaszer? Vergessen, annullieren, streichen, denn hier ist das wahre Panorama, oder anders: Nach Ópusztaszer gehen, die erste Landnahme schauen, und dann hierher kommen und sich das zweite Panorama genau 1111 Jahre danach geben: 896-2007, lieu de mémoire hongrois singulaire.
Allein die Reiseinformation ist nicht besser oder schlechter als an jedem anderen MÁV-Bahnhof: Zu erfahren, wann der nächste Zug nach Bp-Déli fährt ist eine Odyssee für sich, die Anzeigetafeln an den Bahnsteigen, mit Graffiti beschmiert und verdeckt, funktionieren seit Kádárs Zeiten nicht mehr, die Information ratzekahl zu, im Warteraum das Elend selbst, die weißen Abfahrtsplakate lassen die Züge zum Déli großzügig aus, denn wer fährt schon per Bahn von Kelenföld zum Déli, da nimmt man doch...., ja was?
Ich muss natürlich warten, Gleis Vier erscheint mir intuitiv für mein Ansinnen am zukunftsträchtigsten, die Lautsprecher kündigen laufend aber irgendetwas anderes an, bitten um Verzeihung (wofür? Ach ja, für die Verspätung, besser wäre es sich vielleicht für Kelenföld zu entschuldigen...) sogar auf deutsch, schönstes altes DDR-deutsch. Aber trotz allem, ich habe Hunger und brauche Alkohol: denn Kelenföld kann man nur so ertragen, und seien es zehn Minuten. Hinten in der Unterführung, der verdreckten Passage für Kleinwüchsige, in der ich nur geduckt vorankomme, zwischen künftiger U-Bahnstation und real existierender Platte, hinten am Gazdagrét, ein Büffet, zwei Theken, ein plärrender Fernsehapparat. Ich hole mein Bier, Wein ist ja solchen Orts nicht ratsam, und eine Wurstsemmel für sage und schreibe 120.-. Überhaupt nicht schlecht, eine zweite folgt auch bald, Bier gibt es nur eines, das aus dem Zehnten – und so trinke ich mitten im Elften eines aus dem Zehnten, dope mich nieder, höre die Züge, und deren Ankündigung.
An der Theke noch ein Mann, lächelt mir zu, prostet, an der anderen drei Burschen, in schwarz, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Stiefel, an den Hemdsärmeln das Königreich Ungarn, Territorialstatus 1914. Ich denke an gar nichts, habe mich abgefunden: Ungarn 2007, nicht 1937. Zudem lässt der eine seine beeindruckend lange Kette, mit gut vier Zentimeter starken Gliedern, in der Hosentasche verschwinden, holt sie wieder heraus: Rein-raus geht das Spiel, und ich weiß sofort, hier hält man besser den Schnabel, sonst sieht man vielleicht nicht nur die Kette, sondern spürt sie auch. Aber sie reden eigentlich eh nur über eine Untermiete, vom wegziehen von zu Hause, von der Arbeit, dazwischen die obligaten Genitalien, Aufforderungen zum Koitus, aber alles bleibt in jenem Schema, wie heutzutage fast alle auf der Straße in Ungarn sprechen. Kein Unterschied.
Ein Obdachloser schlurft vorbei, der Mann an meiner Theke fragt: "Comment ça va?" - "Merci, ça va bien." Ich schaue verdutzt: "Öha, Kelenföld kriegt Pariser Flair, Clochards ziehen um." Der Obdachlose schlurft weiter, der Mann an der Theke grinst mich triumphierend an: "Gell, hättest Du Dir nicht gedacht, du Schnösel?" steht in seinem Gesicht geschrieben. Ich bemüh' mich zurückzulächeln, bin ja schließlich auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, bzw. wie man ungarisch sagt von der Tapete heruntergekommen und kratze mein Französisch zusammen: "Ah, vous êtes Français?", ertappe mich aber gleich beim Gedanken, den Mann sehend, dass natürlich mitnichten, er muss irgendwo aus dem arabischen Raum sein. Mist, denke ich mir, jetzt bin ich auch schon so weit: Ich spüre es förmlich wie die Schwarzhemdler daneben meine Gedanken erraten, mir wohlwollend auf die Schulter klopfen: "Brav, brav, auf dem richtigen Weg!" – "Ah non, je suis syro-hongrois", höre ich und schon antworte ich, plappernd, nichts bedenkend: "Quel mélange bizarre," – und könnte mich gleich in den Arsch beißen. Er antwortet schon Ungarisch, nein, nichts bizarr, Vater Arzt und Syrer, Mutter Ärztin und Ungarin, was ist da schon bizarr, und grinst, na ja, OK, Liebe ist halt bizarr. Wir reden, wir stellen uns vor, Händeschütteln, wie halt üblich in Ungarn – er: "Rafid", glaube ich – ich: "Béla", er Brückenbauer, ich Historiker. Er käme hierher nur runter, um sich hier das Hirn frei zu machen: "Aha" – sag ich bloß, "Wie kommen Sie auf die Idee?", jetzt grinse ich. Ich sage, ich warte auf den Zug zum Déli, er fragt zu Recht, wie denn ich wiederum auf die Idee käme und jetzt grinst er, dann reden wir über alles mögliche, über die neuesten Brücken in Ungarn, bei Dunaújváros, Köröshegy, die Autobahnringbrücke im Norden, die Viererubahn, das neue Regierungsviertel und natürlich Kelenföld: Seine Lösung ist radikal, enthält viel Sprengstoff, im engsten Sinn gemeint.
Rafid schreit rüber an die andere Theke: "Jungs, die nächste Runde geht an mich!" Ich hebe nicht einmal die Augenbrauen, denke nicht einmal "Aha, aha!" – "Arme Teufel", sagt er, "Sind aus der Gasse, wo ich wohne, kenne sie seit der Kindheit. Sind OK." Ich murmle, denke kurz etwas, und als er hätte meine Gedanken erraten: "Nein, nein, damit habe ich nichts am Hut, Araber, Antizionismus, Antisemit, Neonazi, nein, mich interessiert das Ganze nicht. Und würden sie mich nicht kennen, würden sie mich vielleicht auf der Strasse verprügeln – zumindest einige ihrer Freunde, denn die da tun keinem was...." Wir reden weiter, zweites Bier, der Lautsprecher kündigt Verspätung des EC-s aus Lökösháza an, die Vorortzüge kommen und gehen. Wir reden weiter über Syrien, Ungarn, Damaskus, Palmyra.
Ein martialischer Bursch im militärischen Tarnanzug tritt an die Theke, "Szia, Rafid", sagt er, schüttelt mir, "Helló" sagend, die Hand, und mit einem markigen "Kitartás – Sieg Heil" begrüßt er die drei anderen Burschen. Ich schlucke, hüstle, Rafid grinst: "Auch Historiker, aber noch fünftes Semester." – "Aha." Aber nicht das es mich sonderlich interessiert hätte. Uniformierter: "Du hast das ja sicher noch damals gelernt, als man kreuz und quer alles mögliche erstunken und erlogen hat." – "Ja," sage ich, "und Du wirst es nicht glauben, inzwischen lehre ich es sogar schon selber." Jetzt ist er am hüsteln, sagt aber auch nichts. Die Territorien einmal markiert, wenden wir uns wichtigerem zu. Wir reden weiter mit Rafid, über Syrien, Gott und die Welt, seine Kinder usw.
Dann halte ich es, die deutsche Nationalflagge, eigentlich die Fahne der BRD, auf der Uniform des Herrn Pfeilkreuzlers sehend, nicht mehr aus und frage so über die Theke, offensichtlich in sein Territorium pinkelnd: "Was ist das eigentlich auf Deinem Arm?" – "Na, die deutsche Fahne, siehst Du doch!" – "Aha, aber Du bist doch ungarischer Faschist, oder, hm.. entschuldige, aber wie würdest Du Dich eigentlich selbst nennen?" - "Hungarist." – "Ah, ja natürlich." – Und fast hätte ich gefragt, warum er dann die Fahne der 'Germanisten' trägt, verkneife es mir aber dann doch, vielleicht hat er ja auch so eine Kette irgendwo. "Die Deutschen haben uns im antibolschewistischen Kampf geholfen, deshalb." – "Entschuldige, aber die Deutschen, also für mich sind die, die Du da meinst, halt Nazis, und der Hitler hat diese Fahne, dieses Schwarz-Rot-Gold auf Deinem Ärmel gehasst wie die Pest, war die Fahne der 1848-er, sicher schon 'mal gehört von Einigkeit und Recht und Freiheit, und dann war es die Fahne der l-i-b-e-r-a-l-e-n Weimarer Republik, also von all dem, wozu ich stehe und Du nicht: Deine Leute in Deutschland kriegen von Schwarz-Rot-Gold das Kotzen, die sind mehr auf Rot-Weiss-Schwarz, die Reichsfahne." – "Wusste ich gar nicht," sagt der Junghistoriker und –faschist, "Interessant." Und mit seinem feinen Humor Rafid dazwischenfahrend: "Du solltest den ungarischen Nazis vielleicht Nachhilfe in Geschichte geben, wäre doch einmal was anderes, oder?" und grinst wieder einmal.
Verdattert stehe ich da, könnte mir mit meiner Besserwisserei die Zunge abbeißen. Der Zug wird angekündigt. Will jetzt gehen. Im Zug denke ich mir noch, "Schade, dem Brückenbauer hätte ich vielleicht meine Telefonnummer geben sollen." Wurscht, und entschwinde in der Großstadtanonymität.
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Budapest
The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)
Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts
vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung
des Stricks, von der letzten Schmach.
Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,
wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,
als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke
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