Übersteiger
[ Sport | -s ]
Tatsächlich ist, wie ho. bereits angedeutet, eine intensive Bezugnahme auf die Euro 08 (i.a.R. Kroatien, Polen, Rumänien, Russland, Tschechien ...) in Planung. Zu diesem Zwecke ist u.a. ein Buchprojekt in Vorbereitung, dessen Arbeits(!)titel immer noch Übersteiger lautet. Das Konzept dieser Angelegenheit sei in Prosa wie folgt umrissen:
Das Projekt "Übersteiger" will anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz einen Essayband der etwas anderen Art einbringen. Es soll keine Fußballhistorie im üblichen Sinn bieten, keine metaphysischen Erklärungsmuster favorisieren, sondern vielmehr von der Liebe zum und am Spiel selbst sprechen. Dabei wird es auch darum gehen, die Möglichkeiten auszuloten, inwieweit sich vom Spiel Fußball überhaupt sprechen und schreiben lässt, welche Schwierigkeiten sich bei derartigen Übersetzungen - "Übersteigern" - in den Weg stellen. Daran anschließend gehen die AutorInnen die Frage nach, welche Narrative es denn sind, die dieses Spiel über das 90minütige Ereignis auf dem Feld hinaus entwickelt. Insofern sind die Sprache/n der Fans, der Beobachter erster wie zweiter Ordnung, der medialen Ver- und Auswertungen, des Kommentierens und Zuweisens von entscheidender Bedeutung. Fußball lässt sich in verschiedener Hinsicht als System begreifen, das sich einerseits eindeutigen Festlegungen stets neu zu entziehen vermag, andererseits an spezifischen Grundmustern von Wahrnehmung rührt und auch daraus seine Faszination und Anziehungskraft gewinnt.
Das offensichtliche nie an Kraft verlierende Phänomen der "Magie" des Fußballs ist die Klammer, mit der sich die nahezu unüberschaubare Menge an Zugängen umspannen lässt. Was macht, beispielsweise, den Zauber des südamerikanischen Fußballs aus und wodurch unterscheidet er sich vom europäischen? Gibt es einen soziologisch erfassbaren Ausgangspunkt für einen "linken" und einen "rechten Fußball, wie dies stets aufs Neue eingebracht wird - und ist der linke Fußball mit dem schönen, ästhetisch ansprechenden und im Grunde sich selbst genügenden Spiel gleichzusetzen, während der rechte den Mannschaftskörper als Einheit begreift, die es ausschließlich in Hinsicht auf Effizienz zu disziplinieren gilt? Ungeachtet der Möglichkeiten einer oder mehrerer zutreffender Antworten schwebt darüber natürlich immer die Frage, welche Geschichten jede Form des Fußballs, jedes Spiel aufs Neue erzählt und vor allem, auch in Hinsicht auf die noch immer ansteigende Popularisierung (und zugleich wirtschaftliche Verwertung) dieses Sports: wer sie erzählt. Das drängt die Frage geradezu auf, wie es mit der Phraseologie des Fußballs und des Redens darüber bestellt ist. Unbestritten ist ja mittlerweile, dass Fußball ein Teil der Kultur ist. Manifestationen finden sich etwa in den Bereichen der Architektur (Stadien, Fanmeilen etc.), der Mode (Dressen, Fankleidung, Frisuren, Tatoos, Körperbemalungen), der Politik, der Medienrezeption und der sich daraus ableitenden Diskursformen. Ob Fußball kulturtauglich in einem Sinn ist, den beispielsweise das klassische Musiktheater seit Jahrzehnten in hochelitären Festspielen und ähnlichen Events seiner Verwertbarkeit zuführt, steht auf einem anderen, zunehmend kritisch beschriebenen Blatt. Gleichwohl wird davon zu reden sein.
Wer über Fußball spricht, spricht zugleich über gesellschaftliche Bedingtheiten. Die Schmährufe und rassistischen Ausfälle gegenüber dem als "Anderen" begriffenen Spieler, sind eine dieser Bedingtheiten, die sich auf dem Platz und den Rängen finden. Auch hier, im Fußballspiel direkt, spiegelt sich das Problem der globalen Migrationsbewegungen, die vor allem von reichen Industrienationen als Bedrohung begriffen werden. Allgemein gültige wirtschaftliche Effizienzkriterien werden auch in den Fußball übersetzt: so ist die Aufnahme des "Anderen" in die Reihen der "Eigenen" als eine Form der Zuwanderung ausschließlich vom Kriterium des anzustrebenden Erfolges legitimiert. Der vorgeblich Völker verbindende Fußball ist unter diesem Gesichtspunkt vor allem ein Auffangbecken hochspezialisierter Wirtschaftsflüchtlinge aus der zweiten wie dritten Welt oder, im Fall des Arbeitskräfteaustausches innerhalb der EU, das Paradebeispiel begrenzter Facharbeiterzuwanderung. Treibende Kraft dieser Wanderungsbewegungen und Aufnahmerituale ist natürlich das Kapital im Fußball, dessen Volumen sich in den letzten Jahrzehnten potenziert hat. Fußball ist längst ein Welt umspannendes Milliardengeschäft, in das sich in zunehmendem Maß Oligarchen, Wirtschaftsverbünde und Mäzene einbringen, deren Interessen noch vor kurzem ganz anders gelagert waren. Ihr auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes Handeln unterläuft zunehmend lokale Besitzverhältnisse, die stets eng mit traditionellen Fanstrukturen vor Ort verschränkt waren. Die lauter werdenden Klagen darüber verweisen auf ein grundlegendes Misstrauen, das die Fans den neuen Herren "ihrer" Mannschaft entgegenbringen und in dem sich ihre Furcht abbildet, dass ihnen mit diesen Zugriffen auf den Fußball ihre höchsteigene Geschichte entzogen wird.
Gerade bei Großveranstaltungen wie Europa- und Weltmeisterschaften sowie den europäischen Klubbewerben wird deutlich, welchen Strukturwandel die diversen Fangemeinden durchgemacht haben. Viele Kulturwissenschafter setzen den Ausgangspunkt dafür bei dem in den 70er Jahren beginnenden Abbau der Stehplätze in den großen Stadien und dem gleichzeitigen Ausbau der Sitzplätze und VIP-Tribünen an. Möglicherweise übersieht dieser Ansatz das Faktum, dass sich das Kapital den Bedarf schafft und eine neue zahlungskräftige Klientel eben nicht mit Stehplätzen zufrieden gibt. Vor allem bei Großveranstaltungen erweist sich in aller Deutlichkeit, dass das traditionelle, einst überwiegend proletarisch geprägte Publikum in Public Viewing-Zonen abgedrängt wird. Hier wird eine Ausweitung der Kundschaft betrieben, die an Effizienz nichts zu wünschen übrig lässt: Das Stadion ist während dessen ein Tummelplatz der Sponsorenvertreter geworden, Ort der Werbeeinschaltungen (die gleichzeitig auch in den PV-Bereichen und im Fernsehen reproduziert werden) sowie der gesellschaftlichen und politischen Inszenierungen. Der Arbeiterfußball ist mit seiner Anhängerschaft längst in die Kreisklasse abgewandert (so es ihn überhaupt noch gibt). Damit ist auch die Selbstinszenierung der Fangruppen, die sich Woche für Woche der Identifikation mit ihrer Mannschaft hingaben, in eine neue Phase getreten: Den berühmtesten aller Schlachtgesänge, FC Liverpools "You’ll never walk alone", kann man sich in unterschiedlichster Qualität auf CDs kaufen - und im Bedarfsfall werden Schlachtgesänge, Anfeuerungsrufe und Parolen im Sinne der angestrebten "Stimmung auf den Rängen" gleich vom Band eingespielt.
Bemerkenswert unverändert blieb, von systemischen, sportmedizinischen und physischen Verbesserungen abgesehen, das Fußballspiel selbst. Natürlich sind die athletischen Fortschritte der Sportler unübersehbar, ist das Spiel schneller geworden, wurde die taktische Schulung intensiviert, kamen verbesserte Materialien auf den Markt. Dennoch blieben zentrale Parameter und Fragen unverändert: der Schiedsrichter und die Justiz auf dem Platz, die Formen der Spielbeobachtung und -anteilnahme, der Mythos der "großen" Mannschaften, das Auslösen von Leiden und Freuden, die Verletzbarkeit wie auch Überhöhung des Körpers, das Glück über den perfekten Pass, das Bemühen um den schönsten denkbaren Abschluss eines Spielzugs, die Immersion von Fans und Spielern. Jede Reflexion des Spiels bezieht sich in erster Linie auf seine Dramaturgie, die Hauptdarsteller und Nebenrollen, auf die zur Anwendung gelangenden oder gar scheiternden Regiekonzepte der Trainer. In der Rezeption durch seine Zuseher erlebt der Fußball jede Woche aufs Neue seine 90 Minuten als großes Theater, und wie in jedem großen Theater ist die Aufführung nach dem Fallen des Vorhangs auch hier noch nicht beendet. Der Schlusspfiff löst die Rede aus, leitet die dritte Halbzeit ein - in der die Rezipienten im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Nicht zu übersehen ist, dass die Beobachtung des Spielgeschehens Ähnlichkeiten mit den Generationenkonflikten aufweist. Was die einen auf ihrem Sitzplatz im Stadion ohne Schnitt oder sonstige mediale Regieanweisung sehen (wobei der Altersdurchschnitt auf den Rängen höher wird), nehmen die anderen über eine Medienmaschinerie kaum noch zu überblickenden Ausmaßes wahr: im TV (es gibt praktisch keine durchgehenden Radioübertragungen mehr), auf den Leinwänden der Public Viewing-Zonen und Monitoren der Sportstudios, über den Liveticker im Internet oder am Handy - und auf den Konsolen ihrer Playstations bereits Monate im voraus. Auch diese Fragen soll das zur Diskussion gestellte Projekt "Übersteiger" thematisieren.
(Weitere Hinweise folgen, so u.a. die geplante Aufteilung des Sammelbandes... Abgesehen davon wird es natürlich auch in diesem Weblog die eine oder andere Miszelle zu lesen geben.)
< previous Posting next >
<< previous Topic next >>
Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Antworten