Ungarn | Hungary - Part 28
[ Ungarn | Hungary ]
Wieder einmal Ungarn im Zusammenhang mit der von irgendwem "Lügenaffäre" genannten Tonbandaufzeichnung einer Rede des Ministerpräsidenten, die just vor den Kommunalwahlen auftauchte: Wilhelm Droste denkt in der NZZ über Ungarische Sprachstörungen nach und diagnostiziert: "Intellektuelle sympathisieren weitum mit der 'Skandal-Rede' des Ministerpräsidenten". Er geht von Péter Nádas' Befund aus, den dieser im TV gegeben hatte:
Die Rede, die der Herr Ministerpräsident auf einer Fraktionssitzung im Mai gehalten hat, ist meiner Meinung nach eine grossartige Rede, ein Höhepunkt der Rhetorik, inklusive aller nicht salonfähigen Ausdrücke, die ich nicht als obszön bezeichnen würde, auch nicht als ordinär und anstössig, ganz einfach deshalb nicht, weil sich diese Worte am richtigen Platz befinden. In dieser Rede versucht ein entschlossener und resoluter Mann, der über grosse rhetorische Fähigkeiten verfügt, seine eigenen Genossen, die sich als sozialdemokratische Genossen verstehen, davon zu überzeugen, dass man das Land nicht mehr weiter auf der Basis eines Systems von Privilegien regieren darf.
Droste verweist darauf, dass Nádas' Argumentation von allen Seiten zurückgewiesen wurde - in einem Land, dessen Spaltungen der Bevölkerung kaum zu übersehen sind (und dankenswerterweise verweist er auch darauf, von welch gerüttelt Maß an Unverständnis die meisten "Berichte" und "Kommentare" getragen sind). Im aktuellen ÉS kommt übrigens der Philosoph Tamás Gáspár Miklós in einem langen, ausführlichen Kommentar zu sehr ähnlichen Überlegungen (online ab Montag), er weist besonders nicht nur auf die wachsende Kluft zwischen den verschiedenen Lagern hin (und stellt sich überdies die Frage, welche Legitimation Leute haben, die aus der Flagge das Staatswappen schneiden, sich damit verwirrt einer jubiläumsverwirrten Meute als 56er gebärden wollen und gleichzeitig auch noch die rot-weiß gestreifte Árpád-Fahne schwenken), sondern auch darauf, dass bislang die sozialdemokratischen Intellektuellen kaum eine Möglichkeit gefunden hätten, die Probleme der ModernisierungsverliererInnen anzusprechen und hier aktiv gegenzusteuern. Was dann selbstverständlich auch ein Problem innerhalb der regierenden MSZP von Ferenc Gyurcsány ist.
Droste kommt schließlich nach einem Verweis auf Heinrich von Kleists Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen" zu dem Befund:
In den zum Skandal gewordenen Worten lag durchaus die Chance eines ehrlichen Neubeginns, gäbe es die Bereitschaft, sich ernsthaft zuzuhören. Doch Ungarn im Oktober 2006 sucht nicht nach Verständnis, sondern feiert sich in der Spaltung. Alle sind empört und warten auf Gelegenheit, noch empörter zu sein. So wird das Ungarische auf eine Sprache selbstgefälliger Monologe reduziert. Péter Nádas allein wird sie nicht retten können.
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Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
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