Neue Texte - Part 28

posted by PP on 2006/06/06 01:59

[ Neue Texte ]

Auf H|Soz|u|Kult haben sich übers lange Pfingstwochenende mehrere interessante neue Beiträge eingefunden:
  • Philipp Ther: Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa - Kulturgeschichte als Area Studies
  • Chris Hann: Ostmitteleuropa in Europa und Europa in Ostmitteleuropa - Der Fall Ungarn in ethnologischer Perspektive
  • Katrin Steffen: Zur Europäizität der Geschichte der Juden im östlichen Europa
  • Claudia Kraft: Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die ”allgemeine” Geschichte
Zusammenfassung des Artikels von Philipp Ther:
Der größere zeitliche Abstand zum "kurzen" 20. Jahrhundert und zur Wende von 1989/91 legt es nahe, sich neue Gedanken zur historischen Geografie Europas zu machen. In Deutschland bestimmt immer noch der Kalte Krieg die subdisziplinäre Ordnung der Geschichtswissenschaft. Östlich des Böhmerwaldes und der Oder beginnt die Zuständigkeit der Osteuropäischen Geschichte, der die Geschichte Ostmitteleuropas untergeordnet ist. Westlich davon befasst man sich mit allgemeiner oder auch europäischer Geschichte. Wer sich mit Osteuropa beschäftigt, gilt gemeinhin als Spezialist, auch wenn er romanische Sprachen beherrscht und sich in der Geschichte Westeuropas auskennt, wer sich dagegen auf den westlichen Teil Europas beschränkt, betreibt europäische Geschichte und ist damit selbstverständlich ein Universalist. Natürlich gibt es inzwischen etliche Institutionen und Projekte, die diese Spaltung zu überwinden versuchen, darunter die Förderschinitiative "Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas" der VolkswagenStiftung und das Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas. Aber die akademischen Milieus und die daraus hervorgehenden Karrierewege, die Foren und Themen der Debatten sind nach wie vor getrennt.




Zusammenfassung des Artikels von Chris Hann:
Als ich 1975 als Austauschstipendiat des British Council nach Budapest ging, um Materialien für eine Promotion im Fach Ethnologie zu sammeln, habe ich nie daran gezweifelt, dass ich mich noch im Rahmen Europas bewege. Was für deutsche EthnologInnen noch problematisch war, da Ostmitteleuropa primär als Forschungsgebiet für die KollegInnen in der Volkskunde wahrgenommen wurde, stellte für einige DoktorandInnen in Großbritannien und den USA eine reizvolle Herausforderung dar. Es war selbstverständlich das andere Europa, die Fremdheit der Institutionen und des alltäglichen Lebens hinter dem "eisernen Vorhang", die uns damals angezogen haben. Aber es war immerhin Europa. Demzufolge musste ich mich nach einem BA-Studium in Politikwissenschaft und Ökonomie und den Schwerpunkten Osteuropa bzw. "communist countries" mit der schnell wachsenden Literatur einer "anthropology of Europe" auseinandersetzen. Im Mittelpunkt standen Studien über den Mittelmeerraum wie die von Julian Pitt Rivers über Spanien, Jeremy Boissevain über Malta und John Davis über Süditalien. Sogar Paul Stirlings "Turkish Village" stand ganz oben auf der Liste. Dies war deshalb möglich, weil es nicht in erster Linie um die kulturellen Grenzen Europas, sondern um die Modernisierung von bäuerlichen Gesellschaften ging. Ziel all dieser EthnologInnen war es zu zeigen, dass die Methodik der "teilnehmenden Beobachtung", die sich in Stammesgesellschaften als so fruchtbar erwiesen hatte, auch im ländlichen Europa zu neuen Einsichten führen konnte – weit über die Ergebnissen der herkömmlichen Volkskunde hinaus.




Zusammenfassung des Artikels von Katrin Steffen:
In der "Geschichte von Liebe und Finsternis" beschreibt der israelische Schriftsteller Amos Oz unter anderem seinen Onkel David, der in den 1930er-Jahren in Wilna lebte, dem heutigen Vilnius, das damals Teil der Zweiten Polnischen Republik war. Während es die Großeltern von Oz zu jener Zeit vorzogen, aus Europa auszuwandern, verblieb der Onkel trotz des virulenten Antisemitismus in Wilna, weil Palästina ihm zu 'asiatisch' vorgekommen sei. In diesem Zusammenhang nennt Oz seinen Onkel einen "überzeugten Europäer in einer Zeit, als kein Mensch in Europa sich als Europäer fühlte, abgesehen von meiner Familie und anderen Juden wie ihnen. Alle anderen waren panslawische, großdeutsche oder einfach nur litauische, bulgarische, irische oder slowakische Patrioten. In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Juden die einzigen Europäer in ganz Europa".




Zusammenfassung des Artikels von Claudia Kraft:
In den letzten Jahren wurde die Disziplin der osteuropäischen Geschichte im deutschsprachigen Raum durch die Beobachtung, dass ihr durch den Zusammenbruch des „Ostblocks“ der einstmals klar umrissene Forschungsgegenstand abhanden gekommen sei, dazu herausgefordert, eine innerfachliche Selbstverständigungsdebatte zu führen. Nicht zuletzt die Beiträge, die sich in diesem Themenschwerpunkt explizit mit dem heuristischen Wert einer Analyseeinheit Osteuropäischer bzw. Ostmitteleuropäischer Geschichte beschäftigen, zeigen auf, dass diese Selbstverständigungsdebatte in einen größeren Diskussionszusammenhang gestellt werden kann: Die Frage nach der Bedeutung und Analysekraft historischer Raumkategorien stellt sich für eine Fachdisziplin, die sich seit ihrem Entstehen mit unterschiedlichen Begründungsmustern als Regionalwissenschaft versteht, sehr viel unmittelbarer als für Disziplinen, bei denen die Kategorie "Raum" zumindest explizit keine Rolle spielt. Die scheinbare Krise, in die das Fach Osteuropäische Geschichte nach 1989 hineingeraten war, bewirkte eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit der Kategorie Raum bzw. Geschichtsregion(en), die belegt, dass das Fach keine altmodische Regionalwissenschaft mit zweifelhaften forschungshistorischen Wurzeln ist, der als politiknahe Form der "Feindbeobachtung" nach der "Rückkehr nach Europa" großer Teile des ehemaligen "Ostblocks" ihr Gegenstand abhanden gekommen war. Vielmehr bietet sich die Osteuropäische Geschichte an, sensibilisiert durch die eigene Fachgeschichte, generell den Konstruktcharakter von Raumkategorien sowie die "Wechselwirkungen von Vorgestelltem und Vorgefundenem" (Stefan Troebst) zu problematisieren und unhinterfragte geschichtsregionale Zuschreibungen in Frage zu stellen. Durch die Sensibilität für die Zuschneidung ihres Forschungsgegenstandes, die nicht zuletzt auf einer relationalen Beziehung zu einer nur selten hinterfragten spezifischen Vorstellung von AallgemeinerA europäischer Geschichte basiert, kann die Osteuropäische Geschichte sehr viel dazu beitragen, diese "allgemeine GeschichteA zu dezentrieren und aufzuzeigen, dass "Europa" wohl eine nicht immer reflektierte, dabei aber ungemein reich mit teilweise stark wertgebundenen Vorannahmen belastete geschichtsregionale Konstruktion ist, die in ihrer Wirkungs- und Definitionsmacht weit über ein wie auch immer geografisch definiertes Europa hinausweist.


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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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