Literatur | -e - Part 15

posted by PP on 2006/04/26 11:09

[ Literatur | -e ]

Siegfried Lokatis hat auf H|Soz|u|Kult
Ute Schneider: Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. Göttingen: Wallstein 2005, 399 pp.
[ISBN 3-89244-758-6; EUR 44,-]
durchaus positiv rezensiert. Der Fokus von Schneiders Buch - ihre umgearbeitete Habilitationsschrift - ist v.a. auf das 20. jahrhundert und den deutsch(sprachig)en Raum gerichtet, hebt mit Ende des 19. Jahrhunderts an; die Rezension verspricht gleich mit dem ersten Satz:
Die Lektüre des Buches ist ein klares Muss für Buchhistoriker, Germanisten und alle, die sich um den Zustand der Literatur sorgen: ein Blick in die Eingeweide der Literaturproduktion.
um sogleich eine mehr als berechtigte Kritik an den (auch und gerade im wissenschaftlichen Bereich) mehrheitlich vorherrschenden Zuständen zu üben:
Der Lektor ist leider eine bedrohte Spezies. Wer schon einmal in bestimmten wissenschaftlichen Verlagen publiziert hat, mag sich sogar fragen, ob es diesen Beruf überhaupt noch gibt. Hier ist mit der Ablehnungsentscheidung eine wichtige Lektoratsfunktion ausgelagert: ohne Druckkostenzuschuss kein Buch.
Um nur drei durch äußere Zäsuren (mit entsprechenden - in höchst seltenen Fällen ansatzweise wechselweisen) Auswirkungen auf eben diese Produktionen) chronologische abgrenzbare Zeiträume und deren Abhandlung durch Schneider hervorzuheben:
Ein deutlicher Professionalisierungsschub erfolgte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Lektorenfunktion ist seitdem nicht mehr an herausragende Personen gebunden, sondern sie gilt, wie u.a. aus Stellenanzeigen hervorgeht, als ein unverzichtbarer Bestandteil der großen Belletristikverlage. Obwohl auch in Lexikonartikeln und Fachzeitschriften immer häufiger auf den Beruf des Lektors eingegangen wurde, erschien in der Bundesrepublik erst in den achtziger Jahren eine der Lektorenqualifikation gewidmete Monographie. Insgesamt ging der Trend einerseits in Richtung einer nicht mehr bloß reagierenden, sondern aktiv das Verlagsprogramm planenden, in großen Buchreihen denkenden Rolle des Lektors. Einerseits wurde seine Stellung im Verlag zugunsten der Marketingstrategen ausgehöhlt, andererseits führte die zunehmende Konzernbildung auch zu einer tendenziellen Degradierung und Abdankung des Privatverlegers, des „sichtbaren Ersten“, während sich unter ihm die öffentlich sichtbare Position des Cheflektors herausgebildet hatte.
Es überrascht, dass im "Dritten Reich" keine professionelle Weiterentwicklung zu beobachten ist. Gestärkt wurde – siehe Peter Suhrkamp im S. Fischer-Verlag – im Einzelfall die Stellung von Lektoren, deren Verleger emigrieren mussten, außerdem bedienten sich nationalsozialistische Zensurstellen des Begriffs und bezeichneten ihre Gutachter als "Lektoren". Inwieweit, ähnlich wie später in der DDR, die Wahrnehmung einer politischen Vor-Vorzensur-Funktion auch in der NS-Zeit für das Berufsbild konstitutiv wurde, bedarf noch genauerer Untersuchungen, die allerdings auf bisher nicht geöffnete Verlagsarchive angewiesen wären.
Hervorzuheben ist die Untersuchung der legendären Lektorenaufstände um 1968, als bei Verlagen wie Luchterhand und Suhrkamp das kapitalismuskritische Programm ernst genommen und der Führungsanspruch des Verlegers in Frage gestellt wurde. Die Autorin kann lange Seiten mit der Beschreibung von Fällen füllen, in denen Lektoren aus politischem Protest den Verlag wechselten oder gar neue Verlage (März-Verlag, Verlag der Autoren) gründeten.
Besonders im Hinblick auf dieses Thema bleibt zu bedauern, dass die Autorin aus Gründen methodischer Stringenz auf Zeitzeugen-Interviews verzichtet hat. Insgesamt ist ein beeindruckendes und zu weiteren Forschungen anregendes Panorama entstanden, das das gesamte 20. Jahrhundert umgreift. Bleibt zu hoffen, dass es irgendwann auch noch eine Geschichte des Lektorenberufs im 21. Jahrhundert geben wird.
Wenn dem Wunschzettel noch ein Posten hinzugefügt werden dürfte: Derartige Arbeiten und Übersichten zur Literaturproduktion und dem Verlagswesen in Zentral- wie Südosteuropa wären gleichfalls dringlich erforderlich. Etwa die polnischen, ungarischen und jugoslawischen Literaturen wie deren Entstehungsbedingungen, Verlags- und Lektoratssituationen unter je spezifisch anders gelagerten Rahmenvorgaben etc. ... Das noch vor dem Ablauf der nächsten 100 Jahre lesen zu können wäre gleichfalls mehr als begrüßenswert.

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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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