Medien | Media - Part 34

posted by PP on 2006/03/07 12:53

[ Medien | Media ]

Die EU-Kommission will bis 2010 mehr als sechs Millionen Bücher, Filme und Fotografien über ein einziges Online-Portal zugänglich machen. Die Europäische Digitale Bibliothek soll die schon bestehenden Internet-Bibliotheken der EU-Mitgliedsländer vernetzen.
Und bei netbib wird auf einen nun ins Deutsche übersetzten Artikel der Technology Review verwiesen, der sich mit der millionenfachen Digitalisierung beschäftigt.
Dessen optimistisches Schlussresümee:
Doch die rechtlichen und technischen Hürden können genommen werden. Ist dies der Fall, würden digitalisierte physische Bücher womöglich gar die Milliarden von bestehenden Webseiten in Informationstiefe und Vielfalt übertrumpfen. Ein einziger Online-Katalog, in dem Millionen von Büchern dieser Welt stecken, könnte ein ganz neues Kapitel im Informationszeitalter aufschlagen.
Fein.

Walter Benjamin schrieb in seinem kleinen Aufsatz "Ich packe meine Bibliothek aus":

Und nur das eine wäre anzumerken: das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn. […] Aber wie Hegel sagt: erst mit der Dunkelheit beginnt die Eule der Minerva ihren Flug. Erst im Aussterben wird der Sammler begriffen.
Das will in seiner unvermittelten Kritik natürlich nicht so recht hierher passen; es legt sich quer. Dabei beschrieb doch Jorge Louis Borges "Die Bibliothek von Babel", gleichsam das Ganze, scheinbar viel offener als er beginnt:
Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: grenzenlos. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien: ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Größe eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, genau wie alle einmündet. Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzigkleine Kabinette. In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den äußeren Schein verdoppelt. Die Menschen schließen gewöhnlich aus diesem Spiegel, daß die Bibliothek nicht unendlich ist (wäre sie es in der Tat, wozu diese scheinhafte Verdoppelung?); ich gebe mich lieber dem träumerischen Gedanken hin, daß die polierten Oberflächen das Unendliche darstellen und verheißen ... Licht spenden ein paar kugelförmige Früchte, die den Namen "Lampen" tragen. Es gibt deren zwei in jedem Sechseck, seitlich angebracht. Das Licht, das sie aussenden, ist unzureichend, unaufhörlich.
[...] Ich behaupte, daß die Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten argumentieren, daß die sechseckigen Säle eine notwendige Form des absoluten Raums sind, oder zumindest unserer Anschauung vom Raum. Sie geben zu bedenken, daß ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal unfaßbar ist. (Die Mystiker behaupten, daß die Ekstase ihnen ein kreisförmiges Gemach offenbart, mit einem kreisförmigen Buch, dessen Rücken rund um die Wand läuft; doch ist ihr Zeugnis verdächtig; ihre Worte sind dunkel; dieses zyklische Buch ist Gott.) Für jetzt mag es genügen, wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und deren Umfang unzugänglich ist.
Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus einhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe; Buchstaben finden sich auch auf dem Rücken jeden Buches; doch bezeichnen die Buchstaben nicht, deuten auch nicht im voraus an, was die Seiten sagen werden. Ich weiß, daß dieser fehlende Zusammenhang zuweilen mysteriös angemutet hat. Bevor ich die Lösung, deren Entdeckung trotz ihrer tragischen Auswirkungen wohl der Hauptgegenstand der Geschichte ist, in gedrängter Form wiedergebe, will ich ein paar Axiome ins Gedächtnis zurückrufen.
Erstes Axiom: Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln. [...]

Borges schon längst als "Klassiker" einzustufender, wunderbarer Beitrag aus dem Bereich der phantastischen Literatur erscheint als eine nahezu perfekte Analogie der Vorgänge und Strukturen (letztlich ebenso der nicht einsehbaren Hierarchien) im Internet. Die Frage, ob denn alles gleich geblieben sei, erübrigt sich, da es um Befindlichkeiten des Benützers geht.

So wie es deren mehrere gibt, existieren auch verschiedene Formen von Wahrnehmungen. U.a. können sie - um nur einige wenige Möglichkeiten zu benennen - aus linearen Abfolgen (vor und zurück) bestehen, konstruktiv-dekonstruktivistisch oder auch assoziativ (wie etwa der vernetzende räumliche Blick und/oder die unwillkürliche Ergänzung fehlender Informationen anhand gemachter Erfahrungen) beschaffen sein. Vornehmlich letztere können für die Hinterfragung neuerer Medien eine Betrachtungsgrundlage bieten. Scheinbar ähnlich wie Hyperlinks beschaffen, sind letztere jedoch mechanisch bzw. durch den Einrichtenden elektronisch vorgegebene Denkrichtungen, engen somit in einen gleichsam mechanisierten Kontext ein, wohingegen Assoziationen in einem herkömmlichen Text Spektren zu öffnen imstande sind. Zugespitzt formuliert ließe sich von jener (klischeehaften?) Dialektik ausgehen, mit deren Hilfe Konstellationen als Romantik vs. Klassik, offen vs. geschlossen, Assoziationen vs. Hyperlinks etc. ad infinitum komplikationslos gekennzeichnet werden.

Ein komplexer Text der deutschsprachigen Literatur (ob früh-, mittel-, frühneu- oder neuhochdeutsch verfasst) wird allein deswegen aber auch künftig nicht besser zu verstehen sein. Die Untersuchung des zum Schlagwort avancierten "Hypertextes" könnte - in erster Linie - eine Aufgabe für die Linguistik sein, da diese vom fachlichen Potenzial her gesehen derzeit am ehesten prädestiniert scheint, auf die seitens der Neuen Medien transponierten/-portierten "Texte" einzugehen. Wenn man hingegen die Philologen als "Spezialisten im Lesen" apostrophiert (eine hoffentlich allzu reduktionistische Formel), scheinen auf den ersten Blick die neueren und Neuen Medien nur bedingt die ihren zu sein. Lesen funktioniert in unserer Kultur primär vertikal absteigend und linear. In der gegenwärtigen Phase vernetzter Entwicklung ist hinsichtlich dieser Rezeptionsmuster noch keine wesentliche Änderung abzusehen, was nicht automatisch bedeuten kann, dass die literarischen Projekte im Internet belang- und/oder erfolglos wären.

Hypertexte und die Position des ehedem mehreren Orts theoretisierten und von Umberto Eco so benannten Lector in fabula kollidieren - und man muss nicht Lichtenberg bemühen, um die Ursachenfindung des daraus resultierenden Klangbildes zu betreiben - jedenfalls weitaus leichter als es den Anschein hat. Der Zugriff auf den Text scheint im Bereich der Neuen Medien jedenfalls neue Kleider anpassen zu wollen. Dass es dabei in erster Linie immer wieder um Kommunikation geht, ist offensichtlich.


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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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