Ballack steigt

posted by NP on 2008/06/26 10:53

[ Sport | -s ]

Wer gestern in Deutschland Fußball guckte, konnte eine beispiellose Regression in archaische Ballester-Mythen erleben: Ein Spiel im im Stile des vielbeschworenen Standfußball der 1970er, ein Publikum, das auf einen fairplay-Diskurs verpflichtet wurde, der jeden englischen Gentleman des 19. Jahrhunderts hätte erblassen lassen, und Bildausfälle, wie man sie seit den Statikgewittern aus Chile 1962 nicht mehr erlebt hat.

Und über alledem die gleichmütig sonore Stimme des deutschen Kommentators mit den mittelosteuropäischen Wurzeln: "Ballack steigt". Zu hören wenige Minuten nach Spielbeginn, als der deutsche Kapitäten eine halbherzige Hereingabe von links mit einem leichten Absprung im Strafraum würdigte, fern von jeder Möglichkeit, den Ball zu erreichen oder gar Torgefahr zu bewirken. Ballack steigt: Da wurde die Fußballreportage für einen kurzen Zweiwortsatz zur Dokumentation eines Naturereignisses, von Kräften, denen das staunende Publikum hilflos ausgeliefert ist, Akteuren, deren Tun und Lassen menschlichem Ermessen entzogen ist, die nach Belieben aufsteigen, zur Erde sinken und  wieder gen Himmel fahren, und hieße dieser auch nur Wien.

Und dann waren Bild und Ton mit einmal weg, Stromausfall in Wien, Réthy kommentierte über das Telefon und belegte unfreiwillig, daß die hohe Vermittlungskunst der Fußballmedien im Radio zu Hause ist, dort allerdings die Fähigkeit zu zäsurlosen Satzkaskaden voraussetzt, wenn irgend das Spielgeschehen in der Einbildungskraft der Hörer erstehen soll. Réthy hingegen glänzte zunächst durch Sprechpausen, und dann, als die Bilder des Schweizer Fernsehens eingespeist wurden, durch penetrante Prohpezeiungen -, denn sein Kommentar war den Bilden 2-3 Sekunden voraus, so daß das geneigte Publikum bereits hörte, wie der Ball Lehmann durch die "Hosenträger" (Réthy) glitt, während es dem türkischen Stürmer noch beim Dribbling zusah.

Aber wichtiger als das, was auf dem Spielfeld vonstatten ging, war gestern ja ohnehin, was überall sonst passierte. Seit Tagen beschworen "Hürryiet" und "Bild" die Eintracht zwischen Türken und Deutschen, die "Süddeutsche Zeitung" widmete ihren gestrigen Leitartikel, verfaßt vom Religions-Spezialisten Matthias Dobrinski, dem Festtag der gemeinsamen Feier von Deutschen und Türken, auf dem Alexanderplatz durften nach dem Match handverlesene Repräsentanten beider Länder politisch korrekte Statements über die völkerverbindende Kraft des Fußballs aufsagen. Nur in Sachsen, da wurden angeblich nach dem Spiel Dönerbuden angegriffen und ... ach was. Alles bloß Medienhysterie. Wir haben eine super Integrationspolitik, Europa ist im Sportsgeist verbunden, wobei man deswegen ja nicht gleich alle in die EU aufnehmen muß, gell, wir haben sie ja immerhin schonmal in die EURO aufgenommen ... und hinter allem die nackte Angst vor der Eskalation, vor den ostdeutschen Skins, vor dem Zusammenbrechen der Fassade. Lieber Béla, bei so viel Beschwörungsriten tät ich mir fast mal wieder eine boulevardesk-blöde Schlagzeile wünschen, bei der der eine den anderen in die Pfanne hauen darf. In Deutschland hingegen hat man solche Niederungen des Fußballsports nun verlassen. Ballack steigt.


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01 by PP at 2008/06/26 11:54 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Béla Rásky hat einiges an Entsprechendem gestern gepostet, wenn ich das richtig gelesen habe. Jedenfalls gab inzwischen der Landeshauptmann von Kärnten - und man erspare mir einen wie auch immer gearteten Hinweis auf meine Einschätzung dieses Subjekts - Hürryiet ein Interview, in dem er sich darüber beschwerte, dass Russen und Türken da überhaupt mitmachen dürfen ("da könnte genauso gut Uganda teilnehmen") ... Apropos Uganda: Großbritannien hatte ja dieses dereinst den Kindern Israels als neue Heimat angeboten, bevor es schließlich und endlich eben doch Israel wurde. Und wer spielt zumindest in der Qualifikation für die EM mit, wäre fast dabei gewesen - und spielt in der Europa-Gruppe um die WM-Teilnahme? Eben. Und soweit so gut. Kärntens aus Oberösterreich (mit landesfürstlichem Erlass) eingekaufter Haus- und Hofverein steht dagegen in seinem brandneuen wie wunderschönen Klagenfurter Fußballstadion alle paar Monate vor dem Aus und wäre heuer fast schon wieder abgestiegen. Vielleicht sollte man dort ein bisserl stad sein, was die Einschätzung von Fußball und den daran Beteiligten betrifft.

Das gestrige Spiel dagegen war eine blanke Farce ohne Haken und Ösen. Mitreißend und anstrengend. Denn wie schlecht aufgestellt die deutsche Mannschaft sich auch zeigte, wie sehr die Türken das Spiel auch beherrschten - die deutsche Auswahl blieb am Drücker, brauchte nur vier ernsthaftere Chancen für drei Tore, beide Teams profitierten je einmal von einem durchaus krassen Tormannfehler, die Türken mühten sich und die deutsche Aufstellung funktionierte nur phasenweise. Rauschfußball, der letztlich nichts brachte, aber immerhin mit 3:2 noch knapper ausging als gedacht. Béla Réthy hat tatsächlich eine einmalige Chance verpasst, die im modernen Übertragunsgtechnikfußball eher nicht mehr vorkommt: Eine gediegene Radioreportage anstelle der Abbildungsgeilheit zu setzen, einfach den medialen Sprung hinzukriegen, hat er nicht geschafft. Das ganze Spektakel garniert mit einem Wiener Wolkenbruch ansatzweise biblischen Ausmaßes, der die Straßen leerspülte (Zwangsräumung der Fanzone innert 10 Minuten) und die Leitungen absaufen ließ. Und inzwischen fahren vor meinem Bürozimmerchen gerade sieben Fiaker mit deutschen Fans vorbei, die sich schon mal zeigen lassen, wie es dereinst ausgesehen haben wird. Die große Völkerverständigung am Sonntag? Deutschland gegen Russland oder Spanien (wobei ich momentan auf die ersteren tippe, falls es den Spaniern nicht gelingen sollte, die Außenverteidiger der Russen effizient zu binden und damit dieses fantastische Flügelspiel in den Griff zu bekommen). Es wird ein Fest. Eine weitere Levitation ist nicht ausgeschlossen, bloß: wer wird diesmal der Gesalbte sein? (Und: Können Hiddink bzw. Aragones mit ihren Truppen so naiv sein, wie es Scolari mit seiner Auswahl gegen die Deutschen "taktisch" anlegte?)

02 by Béla Rásky at 2008/06/26 18:49 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten
5 replies (click to show/hide)

Ach Gott , wäre Ballack doch nicht gestiegen und auch nicht Schwein, oder bestenfalls daneben. 

Ich Trottel war ja gestern in dieser Fanzone, umgeben von nationalistischen TürkInnen, die mir mein "Türk, Türk, Türkiye" um die Ohren schlugen, dass es mir richtig weh tat, und als dann Erdogan (mit dem komischen irgendwas unter dem g, das ich auf meiner westlichen Tastatur nicht finde, und wonach man dann das g nicht auszusprechen hat - ich liebe ja Sprachen, die ein diakritisches Zeichen erfinden, damit man selbigen Buchstaben, an dem es zur Anwendung gebracht wird, nicht mehr aussprechen muss, welche Verschwendung, an Tinte, Energie, Raum und Zeit, - aber wie ich gelernt habe erwog einmal Kema Atatürk, das ungarische Alphabet für die Umstellung des Türkischen auf Westalphabet so um 1928 einzuführen, nennen wir den Herrn also einfach Erdóán) ins Bild kam, fast schon hysterisch wurden, und danach die gute alte Kaiserhymne - "Gott erhalte, Gott beschüüüüütze, unseren Kaiser, Kaiser Franz" - hat es mir schon gereicht.

Irgendwann kam dann die Warnung über die Bildschirme - typisch das Bild ist nicht einmal HD, was der ORF so lautstark angekündigt hatte -, dass ein Unwetter naht, man nicht unter die Bäume gehen solle (wohin dann?), und nachdem ich erkannt hatte, dass die Fluchtwege nicht gekennzeichnet sind, habe ich mich noch vor der Zwangsräunung geschlichen. In der U-Bahn gab es dann Live-Übertragung vom Match.

Der ORF hat es im übrigen nicht geschafft auf des Schweizer Fernsehen umzuschalten, der Bildschirm blieb blank, aber das ZDF verweigere ich in solchen Situationen, der andere Béla hin oder her. Aber einer der Höhepunkt dieser EM war für mich noch immer, als Béla Réthy Tomás Ujfalusi interviewte - und meine Mutter nur trocken kommentierte: "És most miért nem beszélnek magyarul?".

Heute gewinnt hoffentlich Spanien... und dann wieder. Und dann steigt die Party.

Was wetten, dass "Heute" heimlich schon die grosse Schlagzeile vorbereitet gehabt hat, die da lautet "Tesekler, Türkiye", tja so kann man nicht einmal das kommentieren...

01 by NP at 2008/06/26 19:01 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Dem bleibt nur hinzuzufügen, daß der Nachname des tschechischen Kapitäns und ehemaligen Innenverteidigers des HSV penetrant auf der vorletzten Silbe betont wird (Ujfalúschi) und ich immer nur schreien möchte: Neuendorfer. Der Mann heißt Neuendorfer. Rasieren könnt er sich aber trotzdem mal.

Und, natürlich, warst im Blog oben DU gemeint, Béla, der eine also!

02 by NP at 2008/06/26 19:01 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Dem bleibt nur hinzuzufügen, daß der Nachname des tschechischen Kapitäns und ehemaligen Innenverteidigers des HSV in deutschen Audiomedien penetrant auf der vorletzten Silbe betont wird (Ujfalúschi) und ich immer nur schreien möchte: Neuendorfer. Der Mann heißt Neuendorfer. Rasieren könnt er sich aber trotzdem mal.

Und, natürlich, warst im Blog oben DU gemeint, Béla, der eine also!

01 by Béla Rásky at 2008/06/26 19:07 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Neuenburger, Neuenburger, Tomás ist in einem nordmährischen Dorf geboren, 9000 Seelen, ich tippe einmal, er ist Abkömmling von Ungarn aus der Slowakei, ehemals Oberungarn, die nach 1945 an die Stelle der vertriebenen Sudentendeutschen zwangsumgesiedelt wurden....

01 by PP at 2008/06/27 11:13 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Zur Aufklärung bietet sich soviel bzw. -wenig (und nur mit Hilfe von Wikipedia) an: 

Tomáš Ujfaluši wurde in Rýmařov geboren. Bei allem anderen, was den Neuendorfer betrifft, schließe ich mich Bélas These von den ehemals Zwangsumgesiedelten an.

01 by Béla Rásky at 2008/06/27 16:06 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Römerstadt hieß es einst

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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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