Die Kakanisierung der Welt
[ Film | Cinema ]
Gastbeiträge gab es h.o. dankenswerterweise schon mehrere, diesmal erreichte uns einer von Stephan Kurz, der eigentlich den Titel Evening's Civil Twilight in Empires of Tin. Fantastische Auslassungen Jem Cohens bei der Viennale tragen sollte. Worum es geht?
In 2007, the Viennale invited filmmaker Jem Cohen to create an evening of film with live musical accompaniment. Inspired by novels of Joseph Roth, Cohen chose to explore parallels between the decline of the Austro-Hungarian empire and modern-day U.S.A.
It’s as simple as this: Regisseur Jem Cohen hat Joseph Roths Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft gelesen, die nachgetragenen Vermächtnisse einer Epoche teils anhand von Archivfotos, teils anhand von selbst gedrehtem 16mm-Material in Wien, in Schlesien und anderswo nachempfunden und die Nachempfindbarkeit und das Nachempfundenhaben nimmt man ihm ohne Probleme ab! Beginnend mit ...
... überdeterminierten Bildern der Tränensäcke des alten Kaisers arbeiten sich die mit Kerzenlicht beleuchteten Kader vor zu großen Schützengrabenkatastrophen. Dazwischen liest Bobby Sommer aus beiden Roth-Texten: Eingeleitet wird mit der Beschreibung des Kapellmeisters Nechwal eine großartige Verbindung hin zu den kongenialen musikalischen PartnerInnen der Aufführung im Rahmen der Viennale 2007: Vic Chesnutt, einige der Bandmitglieder von Silver Mt. Zion und The Quavers, dazu Guy Picciotto von Fugazi.
Die Aufführung im Gartenbaukino 2007 wurde mitgeschnitten und liegt jetzt (dem von Cohen vorgeführten Material gegengeschnitten) auf DVD vor. Alles ist immer irgendwann schon vorgeschnitten (die Flaktürme im Augarten, der Heldenplatz, Lücken in der Häuserzeile). Unschuldig fliegt ein Flugzeug über den Himmel in New York City: Das kommt in der Logik des Films nicht einmal eine Stunde nach den grobkörnigen Doppeldeckerbombern des Ersten Weltkriegs. Das Scharnier des "Ich habe alles reiflich erwogen" klappt dem Publikum den Spiegel zwischen dem Backenbart des Monarchen und einer Bildfolge von Haider Blair Bush (junior und senior) Clinton Nixon Thatcher und wieder Bush (auf dem Flugzeugträger im Kampfanzug, "mission accomplished") hin und her. Die Schrecken des Ersten Weltkriegs werden enggeführt mit dem Herunterlassen der US-Fahne am Gebäude des New York Stock Exchange, die eindrücklichen Bilder mit schrill verzerrten elektrischen Gitarren überlagert.
Der Nachteil der DVD gegenüber dem wirklich beeindruckenden Kinoerlebnis: Man sitzt nicht im Urania-Kino. Der Vorteil: Man kann sich einfach alles nochmal ansehen und anhören. Dabei sind jeweils Details zu entdecken, die kein Zufall sein können: Cohen filmt Worte und Wortfetzen ab, nicht nur die Wachspräparate des pathologischen Museums im Narrenturm, die barock anmutenden Blei- und Zinn-Totenköpfe der Kapuzinergruft In dieser Art der Montage ergeben sich tatsächlich verstörende Kombinationen, die in beide Richtungen (nach Kakanien und in die USA) erkenntnisfördernd abstrahlen. Um es mit Vic Chesnutt zu singen: The world is a sponge.
Alles aber, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.
Die "Halluzination" (wie Cohen selbst meint): Die Pax americana ist vorbei, die "Empires of Tin" sind ground to zero. Ein kaputtes Klavier im Hof der zerstörten Sophiensäle in Wien 3 liefert dazu die Nach-wie-Vorgeschichte. Es ließe sich lediglich kritisch einwendend nachfragen, ob die unerhörte Parallelführung von Untergangsszenarien nicht auch mit anderem Material problemlos machbar gewesen wäre: Brüsseler Abbruchhäuser und abgewrackte Straßenzüge in Tunis, Kairo, Dakar, Moskau?
Dass sich die Viennale auf dem DVD-Cover und in Vor- und Abspann der beim kanadischen Label Constellation Records erschienenen DVD-Version gehörig abfeiern lässt, sei ihr in diesem Fall ohne Abstriche vergönnt: gefährlicher Volltreffer, unbedingt zumindest einmal einlegen!
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Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
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