Abzuwägende Affäre?
[ Tschechien | Czechia ]
Der Fall Milan Kundera hat in den letzten Wochen für internationales Aufsehen gesorgt, seitdem die Zeitschrift Respekt Enthüllungen zu seinem vorgeblichen Verrat gebracht hat. Nur: Einiges ist hier noch nicht restlos aufgeklärt - und insgesamt bietet sich zum x-ten Male ein Sittenbild dessen, dass die ehemals sozialistischen Staaten in ihrer Vergangenheitsbewältigung auch knapp 20 Jahre danach immer noch nicht nennenswert weitergekommen sind. Wie auch - solange die diversen Parteien und Gruppierungen ihre je unterschiedlich zu würzenden Süppchen kochen? (Und dass die dafür benötigte Befeuerung ausgesprochen lange wie bequem aufrecht erhalten werden kann, zeigt auch das Beispiel Österreich immer wieder aufs leider Formidabelste.)
György Dalos, der in derartigen Fragen (ohne dies zynisch missverstanden haben zu wollen) eine Expertise am eigenen Leib und Leben ausweisen kann, hat sich nun in der Frankfurter Rundschau zum Fall Kundera zu Wort gemeldet: Die Affäre Kundera. Versuch einer Rekonstruktion. Seine Analyse der Vorkommnisse, der Verdächtigungen und des bislang vorliegenden Materials endet wie folgt:
Vieles an der Affäre ist unaufgeklärt: Eine gewissenhafte Recherche der noch vorhandenen Prozessakten müsste die Frage beantworten, welche Rolle die Kundera zugeschriebene Mitteilung im Verfahren spielte, ob er und andere als Zeugen vorgeladen worden sind, und wenn ja, wie ihre Aussagen waren; und nicht zuletzt wäre von Interesse, warum der tschechoslowakische Exilgeheimdienstchef, Frantisek Moravec, sowie dessen amerikanische Vorgesetzten den jungen Piloten nach einer soeben gescheiterten Kurierreise bedenkenlos wieder hinter den Eisernen Vorhang schickten.
Wenn wir diese Tragödie an den antiken Mustern messen, wie es der Respekt-Herausgeber und ehemalige Dissident Martin Simecka vorschlägt, dann müssen wir auf das Schwarzweiß-Schema - auf der einen Seite Helden, auf der anderen Übeltäter - verzichten. Vor allem handelte es sich um junge Leute, die in dem weltweiten Konflikt von damals und unter dem Druck einer menschenverachtenden Diktatur von höheren Kräften ferngesteuert ihr Leben, ihre Freiheit, ihr Glück und ihre Moral riskiert hatten.
Sie wurden von ihrer Zeit bestraft, die Zeit muss sie auch freisprechen.
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Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
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