Eurokult
[ Sport | -s ]
Ist die Europameisterschaft überhaupt noch eine Europameisterschaft? Sind die Spieler noch echte Männer? Und warum darf eigentlich Ungarn nie mitmachen? Bevor die Sportredaktionen die Deutungshoheit über den Fußball gewinnen, ist eine kulturhistorische Reflexion der bevorstehenden Ereignisse geboten ...
Nur noch wenige Tage bis zum Anpfiff, und es wird Zeit, die gedankliche Vorbereitung auf die Fußball-Europameisterschaft aus den Sportredaktionen der Tageszeitungen in ihre eigentliche Domäne, die kulturhistorische Reflexion, zu überführen. Welche Themen werden dabei auf der Tagesordnung stehen? Politisch unkorrekt war wohl meine spontane erste Assoziation, die Konstellation, daß Deutschland sich vergangenen Samstag mit einem Spiel gegen Serbien auf das Spiel gegen Polen am kommenden Samstag vorbereitet hat, werde den Ausbruch der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts in neuem Licht erscheinen lassen.
Angemessener und diskussionswürdiger ist ein Eindruck, der mich im Zuge der Festlegung der endgültigen Spielerkader für das Turnier beschlichen hat: Wir sprechen ja von Leistungssport, und die Idee, daß die sogenannten Besten antreten und ihre Kräfte messen, läuft dem Geist einer Sportveranstaltung nicht eigentlich zuwider. Um so bemerkenswerter der Umgang mit den Nicht- bzw. Doch-nicht-Berücksichtigten in der Presse: Dem bisherigen dritten Torhüter der deutschen Nationalmannschaft Timo Hildebrand, der in Valencia eine Spielzeit zwischen Ersatzbank und Glanzparade verbrachte, wurde nach seiner Ausbootung umgehend eine Art posttraumatic stress disorder (PTSD) diagnostiziert, die sich in sekundenlangem Schweigen gegenüber Kondolenzanrufern ebenso niedergeschlagen haben soll wie in einem larmoyanten Auftritt im Aktuellen Sportstudio, bei dem Hildebrand sich vorgenommen zu haben schien, eine Art Best-of aus dem Lebenswerk von Andi Möller (Lothar Matthäus: „Heulsuse“) und Christian Wörns („unfair und link“) zum besten zu geben. Daß die Herren Marin, Helmes und Jones nicht gleich in psychiatrischer Betreuung den schmerzlichen Heimflug von Mallorca angetreten haben, ist unter diesen Bedingungen fast schon erstaunlich. Spezialist für eine solche Trauma-Therapie sind die bei der WM vor zwei Jahren zurückgesetzten Titanen Oliver Kahn und Kevin Kuranyi, der bei erwähntem Spiel gegen Serbien zeigte, daß das Symptom durchaus auch Langzeitweirkungen haben kann.
Entscheidend ist aber ja gar nicht, wie schlecht es den Aussortierten in solchen Fällen wirklich geht, sondern welche Aufmerksamkeit die Medien ihrem Seelenleid widmen. Ich kann mich nicht dagegen wehren, daß ich mich in einem fort das Mantra des 80er-Jahre-Fußballs „Mund abputzen und weitermachen“ murmeln höre, wenn ich die spontanen Selbsthilfegruppen unter der Ägide von Betroffenheitsmoderatoren wie Johannes B. Kerner beim Durcharbeiten ihrer Lebenskrise beobachte. Michael Ballack hat man ja nach dem verlorenen CL-Endspiel gegen ManU fast schon als unzurechnungsfähig erklärt, gewissermaßen ein Führerscheinentzug für den Spielführer wegen akuten Finaldepressionen. Gut das dieser Serbe schnell ein Loch in die Mauer gesprungen hat beim Therapiefreistoß in der 82. Minute.
Rufe nach harten Männern wären aber wahrscheinlich schon wieder politisch unkorrekt. Weiß eigentlich jemand, ob Raul geheult hat, nachdem er in Spanien aussortiert wurde? Raul! Und wie geht es eigentlich denen, die aufgrund der Nichtqualifikation ihres Teams nicht einmal mehr aussortiert werden konnten? Wird jemand eine Geschichte der englischen Nationalmannschaft vor den Fernsehgeräten (wahlweise der Playstation) schreiben? Man überlege mal: John Terry verschießt einen Elfer im CL-Finale und darf nicht zur EM. Was sagst Du dazu, Hildebrand? Oder Ungarn, die zumindest in meiner Erinnerung noch überhaupt nie bei einer EM dabei waren. Die goldene Mannschaft spielte noch zu Zeiten, als eine Europameisterschaft, frei nach Franz Beckenbauer, als Cup der Verlierer erschienen wäre. Und ob 1976 oder 1980 die Herren Nyilasi, Mészáros und Kiss mitmachen durften, bezweifle ich, werde es aber gleich mal in einem einschlägigen Magazin nachschlagen.
Die letzte Frage ist nach alledem dann die, wer angesichts dieser ganzen Krisen, Traumata und historischen Ungerechtigkeiten überhaupt auf die Idee gekommen ist, sportliche Wettkämpfe wie eine Europameisterschaft könnten irgendwie zum Zusammenwachsen irgendeines Europas beitragen. Außer Rußland 1964 haben bislang nur EU-Mitglieder das Turnier gewonnen, und außer Tschechien 1976 ist Osteuropa ohne Titel. Da müßten Herren vom Schlage der Kaczýnski-Zwillinge doch eigentlich sofort ein Veto einlegen, in dieser anti-europäischen Haltung gern unterstützt durch die Briten, die ja bekanntlich auch noch ohne Titel sind. Von den beiden, vormals neutralen, Gastgeberländern ganz zu schweigen. Ist das ganze also eigentlich eher ein Turnier der kontinentalen EU-Gründungsnationen? Bevor sich weitere politische Unkorrektheiten einschleichen, warten wir aber erst einmal den Anpfiff ab, denn die Antwort auf alle Fragen weiß bekanntlich ohnehin nur der, heuer wohl wieder besonders flatterhafte, Ball …
< previous Posting next >
<< previous Topic next >>
Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Antworten
Anmerkung zu den Sportredaktionen: Die grundsätzliche Ignoranz des österreichischen Journalismus hinsichtlich der zentral-, südost- und osteuropäischen Nachbarn ist bekanntlich eine kaum enden wollende und übertrifft durchaus die eigene um nicht zu messende Längen. Insofern erstaunt auch nicht der Befund, dass die Informationshoheit auf jeden Fall in den Redaktionsstuben Richtung Deutungsmonopol vorbereitet ist. Bedauerliches Beispiel (und wir nehmen nur ein aktuell enttäuschendes, nicht den üblichen Blödsinn) ist etwa ein Bericht des Standard über das Vorbereitungsspiel Kroatiens in Budapest. Ein Gutteil des kritisch Anzumerkenden findet sich immerhin in den Postings (auch der ho. Kommentierende gab dort den Beckmesser). So wird das jedenfalls nichts mit einer guten Berichterstattung.
Das will denn doch noch nachgetragen sein: Ungarns Nationalelf hat an zwei Europameisterschaften teilgenommen, wie die Information der Wikipedia besagt - und 1964 den dritten sowie 1972 den vierten Platz belegt. Danach war dann nichts mehr.