Europa | Europe etc. - Part 27
[ Europa | Europe etc. ]
Claus Leggewie hat in einem Vortrag am Wiener IWM einen Vortrag darüber gehalten, wie eine europäische "Geschichtspolitik" aussehen könnte, was mithin die gemeinsamen Bezugnahmen des Kontinents sein könnten - und ob es solche denn gibt. Er ruft Verschiedenes auf (Shoa, Kommunismus etc.), verwirft dieses aufgrund mangelnder Gemeinsamkeiten - und so bleibt ihm letztlich "eine Kategorie, die in jüngster Vergangenheit im Feld der Erinnerungskultur immer mehr an Bedeutung gewonnen hat - nämlich der Begriff der Vertreibung."Etwas davor platziert sich die angekündigte Zweite Ravensbrücker Sommer-Universität 2006 (20.-25.08.2006, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) zum Thema Europäische Gedächtniskulturen, wenn festgestellt wird:
Die Gedächtniskulturen vieler europäischen Staaten sind durch die Erinnerung an den zweiten Weltkrieg geprägt. Der NS-Massenmord, der Krieg und die deutsche Besatzung dienen bis heute als eine wirkungsmächtige Grundlage für die politische Konsensbildung der Nach-kriegsgesellschaften und zwar in West- und in Osteuropa.Während Claus Leggewie hinsichtlich des von ihm vorgeschlagenen Begriffs der Vertreibung auf Ausdifferenzierung setzt und die Debatte an sich schon als wesentlich ansieht:
Allerdings funktioniert diese Kategorie nur dann, wenn es wirklich eine differenzierte Diskussion um die erfolgten Vertreibungen gibt; bloß "ein Jahrhundert der Deportationen" auszurufen - "das geht", wie Leggewie explizit betont, "nicht". Genauer gesagt müssen alle erfolgten Vertreibungen in ihrer ganzen Differenziertheit dargestellt werden, was ja auch passiert, wenn zum Beispiel in Berlin über ein "Zentrum für Vertreibung" nachgedacht wird oder die Idee eines europäischen Netzwerks zu diesem Thema im Raum steht.wird man in Ravensbrück nochmals von den Verbrechen in den Konzentrationslagern ausgehen:
In weiterer Folge könnte es dazu kommen, dass jedes Land die Vertreibungsdiskussion startet, in der es sich "findet" - und so doch alle gemeinsam und doch anders an einer gesamteuropäischen Erinnerung schreiben. Die aber, und das ist jetzt der entscheidende Punkt, keine homogene Erinnerung, kein Gründungsmythos oder kein stabiles Bild ist.
Thema der zweiten Ravensbrücker Sommer-Universität sind die kanonisierten Formen der öffentlichen Erinnerung an den zweiten Weltkrieg in ihrer normenstiftenden Funktion. Ausgangspunkt ist die Geschichte der deutschen Konzentrationslager. Diskutiert werden sollen die Tradierungsmuster der einzelnen west- und osteuropäischen Länder, die Differenzen und Gemeinsamkeiten in der Interpretation von Erfahrungen wie Deportation, Zwangsarbeit, KZ-Haft und Befreiung. Welche Rollen spielten die Häftlingsverbände, die sich nach 1945 gründeten, bei der Entwicklung der jeweiligen Gedächtnisorte? Welche Divergenzen ergaben sich in Westeuropa aus der Erinnerung einerseits an den bürgerlich-national motivierten Widerstand und andererseits an den kommunistischen Widerstand? Welche Erinnerungen an Deportation, Zwangsarbeit und KZ-Haft wurden in den west-europäischen Staaten Teil des offiziellen Geschichtsbildes und welche wurden ausge-klammert? Welchen Einfluss nahm der kalte Krieg auf die jeweiligen Vergangenheitsbilder?
Anmeldung zur Sommerakademie: bis 04.08.2006.
Kontakt:
Mahn- und Gedenkstätte RavensbrückStraße der Nationen | D-16798 Fürstenberg
033093-608-13
033093-608-29
Apropos Europa: Der Historiker Michael Mitterauer hat der Wiener Zeitung ein sehr lesenswertes Interview gegeben (Hinweis im Adresscomptoir):
Es ist leider eine Tatsache, dass man oft von der Europäischen Union spricht, aber den Kontinent Europa, wie wir ihn aus unseren Schulatlanten kennen, im Hinterkopf hat. Und Europa als gewachsener Kulturraum ist wieder etwas anderes. Das schafft viele Missverständnisse. Der Kontinent ist nicht identisch mit dem historischen Kulturraum und auch die europäischen Institutionen der Gegenwart sind sehr unterschiedlich. Das Europa des Europarates ist ein anderes als jenes des Songcontests oder des Gewerkschaftsbundes. Europa als Kontinent ist als Grenze für die EU zu vergessen, der europäische Kulturraum reicht einerseits – etwa durch seine Tochterkulturen – weit darüber hinaus, andererseits ist seine historische Kernzone viel enger. Der Ural ist als kulturelle Grenze bedeutungslos, der Kulturraum reicht nicht bis zum Ural. Dagegen ist Neuseeland europäischer als Albanien – und dennoch wird Albanien früher oder später Teil der EU sein. [...]
Starke Gruppen-Identitäten mögen gegenüber dem Individualismus europäischer Prägung auch viele Vorteile haben, aber sie schaffen doch tiefgreifende Unterschiede. Meiner Meinung nach werden manche solcher historisch weit zurückreichender gesellschaftlicher Unterschiede zu wenig bedacht. Dazu gehört etwa auch die Jahrhunderte lange Verzögerung der Übernahme des Buchdrucks im Osmanischen Reich. Bücher lesen hat viel mit Individualisierung zu tun. Für die Sonderentwicklung des europäischen Kulturraums war dieser Faktor von sehr hoher Bedeutung. Wo nicht gelesen wird, gibt es Defizite.
Wahrscheinlich wäre auch schon viel getan, betriebe man die Aufarbeitung von Grenzsituationen auch weiterhin mit größtmöglicher Reflexion - wie es etwa die Europa-Universität Viadrina auf ihrer Tagung Europa neu zusammensetzen. Die Rekonstruktion der Oder als ein europäischer Kulturraum / Nadodrze na nowej mapie Europy. Rekonstrukcja Odry jako przestrzeni kulturowej (27.-30.04.2006) tat, wovon der Tagungsbericht von Markus Ackeret ausführlich zeugt.
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Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
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