Eurokult 2

posted by NP on 2008/06/03 16:12

[ Sport | -s ]

Fragen gibt es durchaus noch, und folglich demnächst auch zum "Seitenwechsel" noch  viel mehr zu sagen. Es gibt aber auch schon Antworten, die beste stammt wahrscheinlich von Lothar Matthäus, der offensichtlich als Kommentator bei "Eurosport" angeheuert und dazu denkwürdigerweise folgendes zum besten gegeben hat:

"Obwohl es im Alpenraum viele Berge gibt, möchte ich mit meiner Meinung nicht hinter selbigen halten."

Nicht hinter selbigen halten. Ja geht's denn noch. Das sagt der Mann einfach so daher. Nix da von wegen restricted code bei Profifußballern, da redet einer druckreifer als wir ihn je zitieren könnten. Und löst dabei leichtüßig und en passant einen kompletten geistesgeschichtlichen Steinbruch aus: Moses auf dem Berg Sinai. Petrarca auf dem Mont Ventoux. Heidegger auf dem Todtnauberg. Alles unglaubliche Geistesgrößen, die sich für diese Geistesgröße naturgemäß auch die passende Kulisse ausgesucht haben. Und dabei ihrerseits keineswegs mit ihrer Meinung hinter selbiger gehalten haben: Gesetzestafeln zerbrochen, Laura besungen, mit dem Hammer philosophiert -- das geht wahrscheinlich nur vor einem veritablen Alpenpanorama, pardon, Alpenraumpanorama. Sublim, sublim, Monsieur Matthäus, möchte man ausrufen, nur Obacht vor dem nächsten Schritt ...

Jedenfalls gibt es mit Matthäus nun auch im Bereich des Fußballjournalismus Platz für einen Höhenkammdiskurs, und angesichts des zugehörigen Aufrichtigkeitstopos wird mir jetzt langsam klar, warum sich Matthäus bei seinem Debut in der Literaturgeschichte 1997 des Tagebuch-Genres bedient hat. Bedauernswert ist angesichts des Angekündigten allerdings, daß nun nicht mehr Klinsmann deutscher Bundestrainer ist. Sonst hätte in den nächsten Wochen wohl so manche gesetzestafelzertrümmernde Meinung hinter dem ein oder anderen Alpenraumgipfel hervorgelugt ...

Andererseits: Matthäus war Trainer in Belgrad und Ungarn und ist daher möglicherweise der geeignete Kandidat, um die zurecht beklagte Mittelosteuropawahrnehmungslücke in der Euro-Berichterstattung zu kitten. Womit wir nochmal bei den ungarischen EM-Teilnahmen sind, eine 1964 und eine dereinst im Jahr des Herrn 19782. Oder war doch 1972 gemeint? Jedenfalls war meine Intuition richtig, daß es alle Turnieren 1976ff. ohne arany, ezüst oder sonst irgendeine csapat auskommen mußten. Würde gerne wissen, was Matthäus dazu meint.


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01 by PP at 2008/06/03 18:25 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten
1 replies (click to show/hide)

Chapeau! - und der Fehler im Reply ist auch schon repariert. Noch ein Gipfelstürmer: Erich Mühsam war am Monte Verita. Auch Loddar kam eventuell schon mal bis Ascona. Aber mit ihm wäre natürlich Ungarn 1986 in Mexico nicht untergegangen - sie wären nicht mal qualifiziert gewesen. Und so hat alles sein Gutes und Péter Esterházy unter Bezugnahme auf diese These schon darauf hingewiesen, dass es der Weltgeschichte und ihren je neu zu justierenden Zeitäuften (meine Damen, meine Herren, bitte unbedingt Thomas Pynchons neuen Roman Gegen den Tag lesen!) durchaus frommt, wenn Ungarn bei Weltmeisterschaften große Niederlagen erleidet, so nach dem Motto: 1954-1956, 1986-1989. Und insofern als Péters Bruder Márton 1986 die csapat ins 0:6 gegen die Sowjetunion führte, hat die Familie Esterházy einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Auflösung des Eisernen Vorhangs.

01 by NP at 2008/06/03 19:30 Bitte registrieren und/oder loggen Sie ein, um zu antworten

Weia, was wär dann wohl alles noch passiert in Europa und der Welt, wenn Ungarn auch noch bei Europameisterschaften Gelegenheit zu die politischen Zeitläufte vorbereitenden Großniederlagen gehabt hätte? Wird man dem Weltgeist sogar danken müssen, daß er Détari und Co. im Sinne des globalen Kräftegleichgewichts die Qualifikation versagt hat? Man könnte aber natürlich auch umgekehrt fragen: Hätten politische Sensationen wie der EU-Beitritt nicht wenigstens ein klitzekleines EM-Vorrundenspielchen als Vorankündigung verdient gehabt, ein schüchtern-bescheidenes 1:0 gegen die GUS beispielsweise? Loddar Maddäus' Scheitern bei der Qualifikation zu dieser EM ist jedenfalls im Lichte von Esterházys geschichtsphilosophischen Thesen nachträglich und vollständig exkulpiert.

Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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