Nachruf | obituary - Part 6

posted by PP on 2006/02/08 01:21

[ Nachruf | obituary ]

Reinhart Koselleck starb am 3. Februar. Einer der brillantesten, scharfsinnigsten Denker, weit über die ihm angehängten (und von ihm postwendend als Herausforderung begriffenen) Geschichtswissenschaften hinaus, obendrein ein überaus eindringlicher und dabei doch stets zum Denken herausfordernder Redner wird nun über sein vielfältiges Oeuvre präsent bleiben.
 

In seiner Dankrede zur Verleihung des Sigmund Freud-Preises, Nachdenken über Geschichtsschreibung, nachzulesen in der NZZ v. 22.11.1999 (Nr.272, p. 29) äußerte er sich dazu:

Dass für diese Prosa, die schriftliche Prosa also, der Preis ausgerechnet einem Historiker zufiel, hat vermutlich mythologische Gründe. Denn Prosa ist nicht nur der Text, der nüchtern, schlicht und geradehinaus zu lauten hat, wie jedes Lexikon uns belehrt; über ihm waltet die römische Göttin Prorsa, abgeschliffen zur Prosa, die für die Erkundung der Vergangenheit zuständig ist. Auch Antevorta genannt, begleitet sie Carmenta, die Göttin der Weissagung und der Heilkraft. Immer zuvorkommend, ist Prorsa das personifizierte Vorauswissen der Vergangenheit und die Schutzgöttin der glatten Kopfgeburt. Wenn das kein günstiges Omen für einen Historiker ist, dann weiss ich nicht, wozu die Mythologie gut ist. Prorsa hat sicher der Kommission über die Schulter geschaut, als sie just auf den Namen eines Historikers verfiel, um ihm den Preis für wissenschaftliche Prosa zu verleihen.
Wenn man so will, ist jede Wissenschaft prosaisch. Aber wenn das der Fall ist, was ist dann wissenschaftliche Prosa? Offenbar muss sie mehr sein als nur prosaisch, wenn sie denn preiswürdig sein soll. Zur Wissenschaftlichkeit müssen sprachliche Leistungen hinzukommen, ein Mehrwert also, der zu erbringen ist. Wie fragte doch Lichtenberg: "Es ist eine grosse Frage, wodurch in der Welt mehr ist ausgerichtet worden: durch das gründlich Gesagte oder durch das bloss schön Gesagte? Etwas zugleich sehr gründlich und sehr schön zu sagen ist schwer; wenigstens wird in dem Augenblick, da die Schönheit empfunden wird, die Gründlichkeit nicht ganz erkannt."
In dieser Zwickmühle zwischen wissenschaftlicher Gründlichkeit und schöner sprachlicher Gestalt optiert Lichtenberg für beides. Denn gerade die wohlformulierten Bücher verfolgen "ihren Zweck sicherer", weil sie sich an den konkreten Menschen richten, nicht an "den abstrakten Menschen, den es noch nie gegeben hat und nie geben wird". Mit solch einer Maxime kann der Historiker, der historische Prosaist, leben.

Die Seite der Wikipedia ist eine Andeutung, der Nachruf auf derStandard.at und von Andreas Feiertag geht schon weitaus genauer auf die enorme sprachliche Bewusstheit von Koselleck ein.
Und die Universität Bielefeld trauert standesgemäß.

Ebenfalls aus obzitierter Rede stammt der Passus

Auf der Suche nach dem Verschwiegenen und dem Unsichtbaren gerät der Historiker unweigerlich in die Gefahrenzone poetischer Aussagen. Freilich mit der Chance, sprachlich dauerhafte Aussagen zu finden. Gedanken kommen nicht nur beim Sprechen, wie bei Kleist, sondern auch beim Schreiben oder in der Nacht, wie uns die antike Rhetorik belehrt. Einmal angesprochen, hilft der Traum unseren Gedanken weiter, um das Gesuchte auszusprechen. So fand ich - die persönliche Erinnerung sei erlaubt - im Schlaf den Satz "Die Freiheit im Geheimen wird zum Geheimnis der Freiheit".
Dieser Satz bringt den schleichenden Umschlag von der staatlich verfolgten Gewissensfreiheit des 17. Jahrhunderts in die sich ihrer selbst gewisse Aufklärung des 18. Jahrhunderts auf eine begriffliche Figur. Der von Sigmund Freud eingesetzte Pförtner, der den Durchgang vom Unbewussten zum Bewussten hätte überwachen sollen, hatte offensichtlich geschlafen. Er liess eine semantische Botschaft unverschlüsselt durch, die als lesbar verständliche Aussage inzwischen lehrbuchfähig geworden ist.
Damit hätten wir durch die Hintertür des Traumes, wen wundert es, den Anschluss an die Dichter gefunden. Ein bisschen darf auch der Historiker erfinden.

 

M.E. ist das (bei all der in Zuneigung aufgezeigten Distanzierung der jeweiligen Zuschreibungskriterien) nahe an einer seiner Anmerkungen zur Utopie:

Die Zukunft läßt sich nicht beobachten, nicht überprüfen, sie läßt sich, als Zukunft, nicht durch Erfahrung einholen. Die Zukunftsutopie ist deshalb im Repertoire der Fiktionsbildung eine genuine, eine reine Bewußtseinsleistung des Autors. Selbst der fingierte Rückhalt der räumlichen Kontrolle entfällt. Dadurch unterscheidet sich der fiktionale Status einer zeitlichen von einer räumlichen Utopie. Die Realitätssignale seiner Fiktion liegen nicht mehr im heute vorfindlichen Raum, sondern allein im Bewußtsein des Autors. Er selbst und sonst niemand ist der Urheber der Utopie, die zur Uchronie wird. Die Wirklichkeit der Zukunft existiert nur als Produkt des Schriftstellers, der kontrollierbare Boden der Gegenwart wird verlassen.
[Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 3. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, p. 3]

 

 


 

Fortsetzung folgt.

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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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