Blogosfera--sphäre--sphere - Part 33

posted by PP on 2006/04/27 09:16

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Peter Burke (von dem vor kurzem auch hier die Rede war) hat hinsichtlich Memoiren und verwandter Gattungen 1991 in einem Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass "solche Aufzeichnungen keine unschuldigen Erinnerungen enthalten, sondern eher Überredungsversuche sind, die aufgeschrieben wurden, um das Gedächtnis anderer zu modellieren." Fragen ließe sich jeweils auch, inwieweit das eigene Gedächtnis solchen antizipierenden Modellierungsversuchen unterworfen wird bzw. werden soll. Ähnliche Effekte nimmt 1992 Gérard Genette für das Tagebuch (und seine paratextuelle Funktion) an:

Selbst ohne Ausrichtung auf ein Publikum ist die intime Mitteilung des Tagebuchs [...] intentional und überredend wie alle übrigen [...] paratextuellen Mitteilungen. [...] Die Annahme, daß diese Zurschaustellung immer in lauterer Absicht und ohne Verstellung geschieht, wäre nur auf dem Boden einer sehr naiven Vorstellung von Innenleben möglich.

Autobiografische Formen erscheinen insofern als eigenständige Gattungstypen und können kaum als realistisch vorgestellte - und beliebig einsetzbare - Wiedergaben eines "richtigen Lebens" platziert werden, somit als bloße Mimikry und eigenwillig vorgenommene Bestätigung eigener Thesen.

Das Klagenfurter Humaninstitut hat 2006 basierend auf einem 820er (Telefon-) Sample und unter Beiziehung von 70 ExpertInnen einen Studie [.pdf] vorgestellt, die auch von ORF und Standard nach einem APA-Bericht aufgegriffen wurde, die Präferenzen von Weblog- vs. Tagebuchschreiben untersucht haben möchte sowie wieder einmal die schöne alte Frage nach der Demokratisierungsmöglichkeit der Neuen Medien stellte (und bei deren Fragen 1 und 2 so etwas wie self fulfilling prophecy durchzuschimmern scheint, da einfach einmal als fixiert angenommen wird, dass Weblogs elektronische Tagebücher sind). Weblog: Tagebuch >> 39:36 hinsichtlich des Niederschreibens von "persönlichen Gedanken und brennenden Themen", so die sehr wichtige Studie, auf die wir - ohne es zu wissen - schon lange gewartet haben, um medientheoretische Differenzierungen endlich sein lassen zu können.

Franz Kafka schrieb in seinen Notizbüchern, den "Oxforder Quartheften", die flugs als "Tagebücher" bekannt gemacht und schon vom ersten Herausgeber Max Brod eilfertig zurechtgeschnipselt wurden:

7. [November 1921] Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung: Werde ich von jemandem andern beobachtet, muß ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muß ich mich umso genauer beobachten.

 


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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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