Nachruf | obituary - Part 11

posted by PP on 2006/07/03 14:02

[ Nachruf | obituary ]

(Michael Rohrwasser hat uns den folgenden Nachruf auf Robert Gernhardt freundlicherweise zur Verfügung gestellt.)

Michael Rohrwasser: ROBERT GERNHARDT

 

"Ich hatte eine sehr schwere Kindheit. Ich kam praktisch ohne Zähne auf die Welt und war die ersten Jahre so gut wie infantil" (RG)

In Kulturgeschichten der Bundesrepublik, erst recht in den Literaturgeschichten, sucht man vergeblich nach dem Stichwort "pardon" - die Register verweisen dann zurück auf Döblin oder gleich auf die "Hunnenrede" des deutschen Kaisers -, obwohl ihr Mitarbeiter Erich Kästner in der ersten Nummer der satirischen Zeitschrift (vom September 1962) ein vorausschauendes Geleitwort lieferte, das die deutschen Literaturwissenschaftler attackierte: sie sähen nur den Kanon, und schon die "Weltbühne" oder Tucholsky überließen sie den nichtdeutschen Germanisten. Was 1962 für die "Weltbühne" zutraf, gilt heute wieder für "pardon", deren Paten das frühe amerikanische "MAD" von Bill Elder und Harvey Kurtzman und das französische "Harakiri" waren: vom Fach wird sie noch nicht gelesen. Zwar sind inzwischen in Lutz Hagestedts "großer Gernhardt-Bibliographie" (www.hagestedt.de) die ersten Magisterarbeiten verzeichnet, doch noch immer ist Kästners Geleitwort nicht bibliographisch erfasst. Aber die Zeitschrift taucht auf wie ihr Signum: der Teufel, der den Hut zieht, nämlich in den Kommentaren zu ihren berühmt gewordenen frühen Autoren, bei Hans Traxler, Eckhard Henscheid, Fritz Weigle (F.W.Bernstein), Friedrich Karl Waechter, Alice Schwarzer, Günter Wallraff, Otto Köhler, Gerhard Kromschröder, Chlodwig Poth, Wilhelm Genazino, Peter Knorr, Kurt Halbritter oder Robert Gernhardt, der von der zweiten Nummer an vertreten war.
 

 

Trotz aller Attacken auf das Blatt, gestartet vom bundesdeutschen Volkswartbund, der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und anderen Zensurbehörden der frühen Bundesrepublik, trotz eines Händlerboykotts, angestiftet vom Springer-Konzern, trotz aller Beleidigungsklagen und Indizierungen (beschlagnahmt wurde beispielsweise das Heft vom Juni 1964: "Im Bette unbesiegt"), gibt es wenig Gründe, ein globales Loblied auf das Blatt zu anzustimmen. Es gab wenig, was man sich heute noch mit reinem Vergnügen oder gar mit Begeisterung anschauen oder durchlesen mag, vielleicht den "Roman-Kompress" und einige der Bildgeschichten und Karikaturen, darunter freilich Meisterwerke wie Lützel Jemans Photoroman Dichter in Berlin (Oktober 1965) und F.K.Waechters Am Strand von Palma (Mai 1973), oder das Protokoll jener gespenstischen Aktion im Jahr 1968, in welcher ein Schriftsteller namens Bob Hansen ein Kapitel aus Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" an die namhaften Verlage versandte - das Manuskript wurde natürlich von allen abgelehnt, selbst von Rowohlt. Das meiste war aber von der Biederkeit der Zeit geprägt, der "pardon" satirisch zu Leibe rücken wollte. So komisch Chlodwig Poths Serie Mein progressiver Alltag war, so dröge waren in der Regel jene Beiträge, die sich einließen auf die politische Landschaft und ihre Würdenträger, auf die kulturellen Niederungen und deren Repräsentanten. Die Zeitschrift verlor irgendwann (etwa ab 1971) immer mehr von ihrem Witz und von ihrem subversiven Potential, so dass die Recken allmählich ihr Schiff verließen und sich 1979 ihr eigenes bauten: die Titanic.

Von großer Bedeutung ist das Blatt gleichwohl, nicht zuletzt für die Lesesozialisation der damals Sechzehnjährigen. Ich las die Hefte im Lesesaal der Freiburger Stadtbücherei, und einmal kam der mottenpulvrige Bibliothekar zu meinem Tisch geschlurft, beugte sich herab und fragte mich hüstelnd: "Wissen Ihre Eltern, was Sie da lesen?" Sein Gesicht sehe ich noch: in ihm die alte Bundesrepublik.

Robert Gernhardt antwortet, gefragt nach den schönen frühen Jahren: "Allgemein gab es in dieser Dekade das Gefühl eines enormen Nachholbedarfs. Es war relativ einfach, den Überblick zu behalten, es gab ja wenig. Ich bin sehr früh auf Arno Schmidt gestoßen. Von Böll und Hesse hielten wir nichts, vor Thomas Mann und Gottfried Benn hatten wir Respekt, die waren schon eine Nummer größer. Brecht haben wir natürlich gelesen. Der war damals noch kein Schulbuchautor, der jedem zum Hals raushing". Das ist freundlich gesprochen, denn in den Lesebüchern und Lehrplänen der Gymnasien tummelten sich eine Reihe von eher widerwärtigen Autoren, wie bestellt, um alle aufkeimende Lust an der Literatur zu verhindern, und das war gewiss nicht das einzige Mottenpulvrige dieser Jahre.

Vor allem aber hatte man sich mit einer Literatur eingegraben, die erinnerungsbitter und bedeutungsschwer und/oder pathosgesättigt war: mit Paul Celan, Rose Ausländer und Nelly Sachs, mit Günter Eich und Gottfried Benn drangen nur wenig Sonnenstrahlen ins Lesekabinett. Mit "pardon" fand eine Entkrampfung statt, eine Auflösung des Kanons; ein pathos-resistentes "Komm hinaus ins Freie!" erklang. Ohne es recht zu bemerken, begegnete man dort auf freier Wildbahn einer neuen literarischen Schule, die ohne alle Feierlichkeit dabei war, eine ganz andere Kulturlandschaft zu zimmern, in der auch noch das Zotige und Unsinnige seinen Platz hatte. Plötzlich war ein Seiteneinstieg in die Literatur möglich, der nichts mit Rudolf Borchardt, Hans Carossa und Hermann Hesse zu tun hatte, freilich auch nichts mit Nelly Sachs oder Paul Celan. Das lässt sich genauer lokalisieren: "pardon" leistete sich elf lange Jahre lang einen zweiseitigen Mittelteil (das erste Mal, im September 1964, waren es drei Seiten), dem man rückblickend avantgardistische Qualitäten attestieren kann: "DIE WELT IM SPIEGEL. Die unabhängige Zeitung für eine saubere Welt", ein Blatt im Blatt, das "als Gipfel des Seriösen" (Gernhardt) sich mit einem hehren lateinischen Motto schmückte, wie es beispielsweise der Berliner "Tagesspiegel" noch immer tut: "Pro Bono. Contra Malum" (der Literaturwissenschaftler ist versucht, über die Bedeutung von Motti auszuholen, aber der Germanist Gernhardt hat das schon erledigt. Er protokolliert auch noch die anderen Varianten, die von ihm und Fritz Weigle erwogen worden waren: Manus manum lavat; ars pro toto; pars pro forma; non modo, sed etiam!; quosque moped?; avus asinus est; ablativus absolutus est! Als Motto des zweiten Reprints von "Die Welt im Spiegel" wählte man dann: "Dem Baren, Schönen, Guten"). Auch Nachrichten finden sich in dem Blatt, etwa vom 12. Deutschen Onomatopoetentreffen in Bad Wuschl oder eine Meldung wie die: "Mit Müh und Not erreichte in der Nacht zum vergangenen Freitag ein Vater den Hof. Dort angekommen musste er die Feststellung machen, dass das Kind in seinen Armen tot war. Nach Angaben des Vaters....". Natürlich ist die Assoziation "Schülerzeitung" oder "Pennälervers" nicht so abwegig: Die neue literarische Schule konnte sich ihre Hörer nur in den neuen Lesern suchen; sie unterdrückte nie ihre pubertären Elemente und sah es schamlos auf ein befreiendes Gelächter ab. Während "pardon" sich an der tristen Welt abstrampelte, bot der Alltag hier das Material für unsinnige Witze, deren unübertrefflichen Pointen darin bestanden, diese zu verweigern.

"Die Welt im Spiegel" wurde von einem Dreigestirn produziert: Friedrich Karl Waechter, Fritz Weigle und Robert Gernhardt. Später gab es noch einige weitere "Beiträger", darunter Bernd Eilert, Peter Knorr oder Hans Dieter Emigholz. Gernhardt, Weigle und Waechter kommentierten im Gespräch mit Eckhard Henscheid (12. Nov. 1978) die Entwicklung ihres Blattes:

Es war eine sehr intensive Form von Gruppenarbeit... Gruppensitzungen in Gasthäusern, außerhalb der Arbeitszeit, anfangs ohne Verwertungsgedanken; während der Arbeitszeit machten wir jede Art von Redaktionsarbeit, außerdem geißelten wir die Missstände, Weigle als Hermann Rabe, F.W.Bernstein oder Bernhard Schuster, ich als Lützel Jeman, Paul H. Burg, Arthur Klett oder Alfred Karch... Ein wichtiges Datum ist dann der Februar 1970. Von da ab haben wir WimS in eigener Regie gemacht... 1971 ist wieder ein entscheidendes Datum. Lützel Jeman gibt sein Pseudonym auf... Ich habe das dann in einem langen, strategisch breitangelegten Überleitungsprozeß ähnlich wie von Coca Cola zu Coke von Lützel Jeman über Robert Jeman Gernhardt zu Robert Gernhardt gebracht... Wenn positive Kritiken kamen von wegen herrlicher Blödsinn, so hat das immer Unbehagen ausgelöst. In diesem Punkt können wir uns wirklich auf Morgenstern beziehen, der in einem Leserbrief einen Rezensenten gebeten hat, nicht von Blödsinn zu sprechen, auch nicht von höherem. Sein ganzes Verdienst sei es vielmehr, eine gewisse Helligkeit und Schnelligkeit an den Tag zu legen.

Die Tendenz zur Selbstauflösung war im Konzept des Blattes selbst angelegt. Gernhardt:

Es stimmt schon, dass die Zeitbombe irgendwo in WimS selber steckte. Weil WimS so gegen Formen war, musste sich irgendwann mal die Form von WimS überleben. Sie begann überflüssig zu werden.

 

Während sich meine älteren Freunde mit Gottfried Benn herumschlugen und später große Bücher schrieben, in denen sie ihn bekämpften und ihm zugleich huldigten ("Das Buch der Könige"), durften wir neben der alten schon die neue Literatur lesen, die die Genregrenzen spielend aufhob, die zur Schreibmaschine selbstverständlich den Zeichenstift, den Pinsel und die Kamera stellte, die intertextuelle Techniken nicht als hehres Spiel für Gebildete praktizierte, die die alten Suggestionstechniken Reim, Metrum und Rhythmus wieder aus der Werbung zurückholte und den körperlichen Befindlichkeiten wieder ihren Raum gab. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung vermischten sich mit Kalauern und Zoten, sinnlosen Witzen und erotischen Bildern, was der Freude des lesenden Schülers keinen Abbruch tat. Das "Unliterarische" wurde spielend erobert (was nicht zuletzt an Peter Rühmkorfs großen Fischzug durch den literarischen Untergrund, an seine epochale Sammlung "Über das Volksvermögen" erinnert), und ohne alles Memorieren konnte man Tiergedichte von Kragenbären, Schnabeltieren und Gabelweihen auswendig rezitieren. Auch die Grenze von Produzenten und Rezipienten wurde geöffnet, denn natürlich wurde man zum Nachahmungstäter, der dabei feststellte, dass das ein mühseliges Geschäft war. Dass Gedichte "gemacht" wurden, haben wir weniger bei Benn und Poe, sondern bei Gernhardt gelernt.

Dreißig Jahre später ist Robert Gernhardt vom "Gelegenheitsdichter" zum "Klassiker" erhoben worden, der fast einhellig geliebt und gelobt wird und dessen Gedichte von den Klowänden in die Lesebücher und in die reclam-Universalbibliothek gewandert sind. Die Narrenkappe hat sich in Dichterlorbeer verwandelt, die Sprachclownerie hat sich als Sprachreflexion entpuppt. Für Harald Schmidt ist er der "Gottvater aller, die in Deutschland schon mal einen Witz versucht haben". Nur bei der alten Dame "konkret" wird noch (oder wieder) moniert, dass "die Umarmung durchs bürgerliche Feuilleton ihr [der Neuen Frankfurter Schule] den anarchistischen Impuls ausgetrieben" habe (Jürgen Roth und Kay Sokolowsky in: Literatur-Konkret Nr. 22/1997/98). Aber die subversive Kraft dieser neuen literarischen Bewegung, die einiges mit dem Berliner Dadaismus von 1919 verbindet und mit dem Werk Karl Valentins, war immer schon selbstreflexiv und spottete lustvoll gerade über das eigene "Lager". Gernhardts "Schnuffi" und Waechters "Jochen" hatten nie erwogen, sich zu organisieren oder zu agitieren. Sie verabschiedeten die Hermetik und das Mottenpulver der frühen Jahre im Zitat und in der Karikatur.


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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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