Öffentlicher Verkehr | Public Transport - Part 9
[ Öffentlicher Verkehr | Public Transport ]
Zwar fällt Julia Herzbergs Rezension von
Nancy Aris: Die Metro als Schriftwerk. Geschichtsproduktion und industrielles Schreiben im Stalinismus. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2005, 355 pp.
[ISBN 3-865-73085-X, EUR 39,-]
etwas zwiespältig aus, wobei ihre Eingangsfrage lautet, " wie dieser Diskurs über die Metro und den Metrobau zustande [kam], der es noch heute schwer macht, Opfer zu benennen und Distanz zu den Quellen zu wahren?"
Dennoch scheint hier eine durchaus interessante Studie vorgelegt worden zu sein.
Der erste Teil der Studie befasst sich mit der Organisationsgeschichte sowie den Implikationen des Projektes, das nur ein Baustein unter vielen in der mehrbändigen Geschichte der Fabriken und Werke war. Mit dieser Reihe verfolgte ihr Initiator Maksim Gorki sowie die Partei drei Ziele: Neben der Abbildung der Industrialisierung und dem Verfassen einer proletarischen Geschichte durch die Arbeiter selbst sollte nicht weniger als der neue Mensch entstehen. Während Gorki jedoch vor allem die Schaffung einer eigenen Arbeiterkultur im Blick hatte, ging es der Partei in erster Linie um die Steigerung der Produktivität. Das alles ist nicht neu.
Aris gelingt es aber im zweiten Teil detailliert zu zeigen, wie sich diese Ansprüche in der Organisationsstruktur der Redaktion sowie in den Methoden der Materialbeschaffung und Archivierungspraktiken widerspiegelte und wie sie trotz der Maßgaben Stalins und Kaganowitschs eine eigene Dynamik entfalteten. Dabei räumt Nancy Aris vor allem dem Redaktionsarchiv eine besondere Rolle ein.
Und die Kritik der Rezensentin an Aris' Herangehensweise bei der Frage nach den Archiven, den dortigen Arbeits- und Katalogisierungsweisen, dem Umgang mit den Quellen, ist eine durchaus klar formulierte:
Obwohl Aris in ihrer Fallstudie sehr viel interessantes Material präsentiert, gelingt es ihr nicht, Thesen über den Stellenwert von Archiven in sozialen und gesellschaftlichen Umbrüchen zu formulieren.
Besonderes Augenmerk verdient wahrscheinlich Aris' Beschäftigung mit den Arbeitertagebüchern und dem doch sehr naiven Zugang der Kontrollinstanzen:
Von diesen Tagebüchern erhofften sich die Initiatoren viel. Sie galten als geeignetes Mittel erzieherisch wirksamer Selbstreflexion sowie als Möglichkeit äußerer Kontrolle. Durch die "Tagebuchmethode" sollte die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichen durchbrochen sowie ein proletarisches Geschichtsverständnis durchgesetzt werden. Die Überlegungen gingen jedoch nicht auf. Die Arbeiter griffen nur zögerlich zur Feder, zudem hielt die Begeisterung für die Fremd- und Selbstüberwachung nicht lange an. Die wenigen Tagebücher erwiesen sich inhaltlich für die Publikation in weiten Teilen als unbrauchbar, so dass man ab 1934 Befragungen zur Materialerhebung einsetzte. Die Geschichtskonzeption Gorkis, in der der Arbeiter sowohl Subjekt als auch Autor sein sollte, war damit obsolet, obgleich das Autorenkollektiv offiziell nicht von ihr abrückte.
Am spannendsten ist der dritte Teil der Dissertation. Die Verfasserin zeigt, wie die Geschichte der Metro verfasst und mehrfach umgeschrieben wurde. Dabei stellt sie verschiedene Verfahren der Textmanipulation wie zum Beispiel die leitmotivische Organisation des Textmaterials, Dekontextualisierung sowie die in den Texten inszenierte Oralität vor. Folgerichtig problematisiert sie im Anschluss die Frage nach einer spezifischen stalinistischen Form von Autorschaft, wobei sie sich explizit von den Arbeiten Katerina Clarks, Vladimir Papernys und Evgeni Dobrenkos abwendet, die ihrer Ansicht nach "gegen die stalinistische Repression anschreibend" fälschlicherweise das "Bild eines freien, autonomen Autors" (S. 283) reklamiert hätten. [...] Näher an Foucault als an Barthes versteht Aris den Autor als juristische Figur, dessen Urheberrechte am ursprünglichen Text beschnitten wurden und dessen Autorschaft in der Geschichte der Moskauer Metro nicht individuell, sondern transpersonal und inszeniert war.
Getrübt wird das Bild auch dadurch, dass Aris wichtige Arbeiten mit ähnlichen Fragestellungen nicht rezipiert hat. Vor allem fehlt eine Auseinandersetzung mit den Thesen Michail Ryklins über den Metrodiskurs.[*] Er konnte am gleichen Quellenmaterial zeigen, wie die Fachsprachen der Handwerker und Ingenieure dem offiziellen Diskurs weichen mussten. Während Aris die Gleichschaltung der Biografien aufzeigt, entdeckt Ryklin gegenläufige Schreib- und Redepraktiken, die den Dingen einen pseudopersönlichen Charakter verliehen. [...]
Nancy Aris hat eine interessante Studie verfasst. Besonders gelungen sind jene Kapitel, in denen sie die literarischen Verfahren aufdeckt, die für das Schreiben und Umschreiben der Metro-Geschichte benutzt wurden. Jedoch glückt es Nancy Aris nicht immer, ihre Ergebnisse in größere Zusammenhänge zu stellen und an bisherige Forschungen anzuschließen.
[*] Michail Ryklin: Metrodiskurs I. In: Ders.: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Frankfurt/M.: 2003, p. 87-110; Michail Ryklin: Metrodiskurs II. Ibid., p. 111-133.
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Senior Editor
(Weitere Informationen hier)
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
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