Erinnerung | Memory - Part 36

posted by PP on 2006/03/16 11:27

[ Erinnerung | Memory ]

In Russland werden, einem längeren Bericht der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zufolge, die Archive wieder schwerer zugänglich:
Als in der Ära Jelzin die Archive des Sowjetterrors sich öffneten, schienen Aufklärung und Modernisierung in Russland unaufhaltbar. Mittlerweile sind aber die Behinderung wissenschaftlicher Arbeit und die Verdrängung von Geschichte wieder gängig geworden.
Und nicht nur die "öffentlichen" Archive, auch die Bibliotheken des Landes sowie Familien- und Hausbibliotheken sind betroffen:
Während die öffentlichen Bibliotheken im Sozialismus mit Hungerrationen auskommen mussten, liess der Rückzug des fürsorglichen Staates aus seinen sozialen Pflichten sie zwang- und klanglos verfallen. In den neunziger Jahren, schreiben die Moskauer Soziologen Lew Gudkow und Boris Dubin, haben die grössten Bücherdepots des Landes aufgehört, ausländische Bücher und Periodika anzuschaffen; drastisch gekürzt wurde auch die Anschaffung einheimischer Literatur.
Verglichen mit 1990 ist der Zuwachs an neuen Beständen um das Dreifache gesunken, um 20 Prozent ist auch die Zahl der öffentlichen Bibliotheken zurückgegangen. Zudem tat sich eine dramatische Kluft zwischen reichen und armen Regionen auf: In den besten ist die Anschaffung von Literatur weitaus besser als in den schlechtesten, so dass einige Gebiete, wie etwa der Kaukasus, auf das Niveau von Entwicklungsländern gerutscht sind. Freilich gab es Projekte wie die "Puschkin-Bibliothek" von George Soros, die zur Rettung und Modernisierung der ländlichen Bibliotheken beigetragen hatten. Aber nach dem Ende dieses Projekts fiel die Aufgabe an die Kommunen zurück, die nicht einmal die laufenden Unkosten tragen können.
Da Bibliotheken als "reproduktive Institution von Gesellschaften im Modernisierungsprozess" fungieren, wollen Gudkow und Dubin ihren Verfall in postsowjetischer Zeit als Symptom für die missliche Lage der Bildungs- und intellektuellen Schicht, gar für deren anthropologische "Unfähigkeit zur Modernisierung, einschliesslich ihrer Unfähigkeit zur Demokratie", verstehen. Als Beleg dafür dient ihnen das Schrumpfen der Familien- und Hausbibliotheken. Während 1995 noch 21 Prozent der Befragten über 300 Bücher zu Hause hatten, sind es 2005 nur noch 10 Prozent. Am stärksten - von 4 auf 1 Prozent - fiel die Anzahl der besonders umfangreichen Privatbibliotheken mit über 1000 Büchern. Zugleich ist die Zahl der Fernsehzuschauer von 58 Prozent auf 70 Prozent angestiegen.
Doch ganz so einfach ist die Sache auch wieder nicht zu sehen. Kritisch wird angemerkt:
Die These [innere Unfähigkeit der Bildungsschicht zur Innovation, die ihre Wurzel im tradierten kulturellen und intellektuellen Epigonentum habe; Anm.] wäre wesentlich glaubwürdiger gewesen, wenn die Autoren das Ende der Leserkultur und der Intelligenzia im Kontext der nachholenden Medienrevolution und vergleichbarer Prozesse in den osteuropäischen Ländern ausgelotet hätten. [...] Es kommt einem Kurzschluss gleich, wenn der Nationalismus und die nostalgische Sehnsucht nach der Grossmacht mit all ihren Mythen und Verschwörungstheorien primär aus geschlossenen Archiven und leeren Bibliotheken abgeleitet werden.
Tatsache bleibt aber, dass es um die Bibliotheken und Archive Russlands übel bestellt ist. Aber das "dies betrifft nicht nur die 'Reproduktion komplizierter und raffinierter Formen des Wissens und der Kommunikation', sondern die russische Gesellschaft als Ganzes", folgert Sonja Margolina.

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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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