Balkan | -s - Part 44

posted by PP on 2006/03/12 13:35

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Einen Tag vor dem 3. Jahrestag der Ermordung von Zoran Djindjić (cf. Interview mit Ružica Djindjić) starb also Slobodan Milošević. Die Konzidenz solcher Ereignisse soll jedoch ebensowenig kommentiert werden wie die selbstverständlich längst erhobenen Vorwürfe, dass SM "ermordet" worden sei, dass man ihn nach Moskau in eine Spezialklinik hätte ausfliegen müssen (gewiss nur zufälligerweise der Aufenthaltsort seiner Familie). Als wäre das wichtig.

Wichtiger schiene schon, die tiefe Spaltung, die quer durch Serbiens Bevölkerung geht, zu beachten. Oder überhaupt die weitgehend untauglichen Versuche der EU und ihrer Außenpolitik, mit Serbien, Montenegro, Kossovo und Republika Srpska (von Albanien, Bosnien-Herzegovina einmal abgesehen) einen adäquaten Umgang zu finden, Konflikte zu beseitigen, die zahlreichen Probleme zu bewältigen. Dazu ein andermal mehr.
Für den Moment und um beim Hauptthema zu bleiben: Da kann man sich auch schon einmal die "Vorverurteilung" leisten festzustellen, dass SM einer der Hauptverantwortlichen für das Schlachten am Balkan war. Und die Herren Ratko Mladić und Radovan Karadžić immer noch frei sind.

Hier eine Meldungsübersicht zu den letzten (UPDATE: 72) Stunden: ...

Eric Gordy, East Ethnia-Weblog: Finally, the post-Milošević era und dabei natürlich Questions about Milošević's death. Möglicherweise war es ja Rifampicin.

Dragan Antulov im Draxblog III zu Slobo Myths.

Zwischendurch noch dies: Der Wikipedia-Eintrag zu Slobodan Milošević

derStandard.at hat ein eigenes Ressort mit zahlreichen Meldungen eingerichtet. Dazu gibt es auch einen Nachruf: Wie ein Fisch auf dem Trockenen und es scheint festzustehen: Milosevic' schweres Erbe:

Die innenpolitischen Konsequenzen daraus sind unkalkulierbar. Der nach dem Sturz Milosevic' vom 2003 ermordeten Premier Zoran Djindjic eingeleitete Reformprozess und der Zug auch der Serben nach Europa wären wohl endgültig passé. Zwischen Ungarn und Mazedonien, Kroatien und Bulgarien drohte ein schwarzes Loch auf der politischen Landkarte. Jahrelange Kleinarbeit und immense Kosten zur Stabilisierung der gesamten Region wären damit zunichte gemacht.

Die Presse berichtet, dass der Leichnam obduziert würde und packt via Reaktionen gleich noch ein wenig mehr an Information dazu. Del Ponte schließt inzwischen einen Selbstmord nicht mehr aus. Und nun fast folgerichtig: Milosevic-Tod erschüttert UN-Tribunal. Dabei gilt im Moment angeblich: Schädliches Medikament im Blut von Milosevic. Jedenfalls weiß man zu berichten, dass Le Soir berichte: Medikamente in Zelle von Milosevic gefunden. Es geht um "nicht verordnete". Und damit das Begräbnis auch eine familiäre teilnahme verzeichnen kann, wird der Haftbefehl gegen Ehefrau von Milosevic außer Kraft gesetzt. MM darf demzufolge aus Moskau anreisen, die Anklage wird aber nicht rückgängig gemacht.

Der Kurier titelt lapidar wie soweit korrekt: Machtmensch stirbt in UNO-Haft. Und bringt: Presse: "Nur wenig Tränen", Das Jüngste Gericht entscheidet, Reaktionen auf den Tod von Milosevic, Aufstieg und Fall von Slobodan Milosevic, Wichtige Daten im Leben Milosevic’ und Die Anklagepunkte gegen Milosevic. Ja, der Tod von Milosevic gibt Rätsel auf. Montag mittag eines dieser Rätsel: Kann es nicht auch ganz einfach so sein, dass SM bewusst eine falsche Medikamentierung anwandte (nein, nicht um Selbstmord zu begehen, sondern:) um nach Moskau ausgeflogen werden zu müssen?! Quasi ein Trick mit Selbstüberlistung, denn es finden sich angeblich Falsche Arzneien in Milosevics Blut.

Die Zeit bringt einen Mann der Vergangenheit und weiß jetzt (Montag): Die Spekulationen gehen weiter. Danko Alimpic kommentiert jedenfalls in Tote Mörder reden nicht: "Die Vergangenheitsbewältigung im ehemaligen Jugoslawien erlitt einen Herzinfarkt".

Netzeitung.de hat die Meldungen Nach Tod Milosevics: "Unschuldsvermutung bis in alle Ewigkeit" sowie Kritik an UN-Tribunal wegen Tod Milosevics parat, konstatiert Milosevic wird obduziert:
Del Ponte schließt Selbstmord nicht aus
und bringt mittels dieser Suchabfrage einen ganz ausgezeichneten Überblick über die vielfältige Meldungssituation quer durch alle Informationsmedien. Und nun spätabends auch hier die neueste offizielle Erkenntnis von der achtstündigen Obduktion: Autopsie abgeschlossen: Milosevic starb an Herzinfarkt. Doch nun, von Sonntag auf Montag, wird das nochmals ansatzweise in Frage gestellt: Autopsiebericht schürt Spekulationen: Milosevic nahm schädliche Medikamente.

Auch das ZDF berichtet von der Obduktion.

Die ARD schickt Reaktionen online und kommentiert: Nach Milosevics Tod steigt Druck auf Belgrad.

Die Süddeutsche nimmt wie viele andere die aktuelle Frage der Obduktion als Aufhänger. Und resümmiert: Vergebliches Ringen um Gerechtigkeit. Jedenfalls stünde die Todesursache fest: Milosevic an Herzinfarkt gestorben. Doch halt: Milosevic nahm schädliches Medikament. Gesundheitsfördernd war es jedenfalls nicht. Oder doch ein wenig mehr an neuen Gerüchten gefällig? "Sie wollen mich vergiften", so die posthume Botschaft.

Der ORFBlog berichtet, dass man beim ORF (der jetzt am Sonntag Abend AFP übernimmt: Milosevic starb an Herzversagen und Montag mittags weiß: Milosevic wird in Belgrad beigesetzt) der Ansicht war, dass SM erst 2005 zurückgetreten wäre.

Die Neue Zürcher Zeitung bringt unterschiedlichste Meldungen, zwischen Unschuld, Machttechniker, Todesnachricht und Autopsie. Aktuell: Spekulationen um Todesursache. Und das wird von SMs Parteigängern aus auch noch eine groß aufgeblasene Geschichte: Wo wird Milosevics Grab stehen?. Jedenfalls und vorerst gilt: Ergebnisse der Autopsie nicht vor Montag. Und es gibt einen fast resigniert zu nennenden Beitrag des Schriftstellers Bora Cosić: Dead Man Walking:

Der Tod von Slobodan Milosevic, dem ehemaligen serbischen Diktator und Haager Langzeitgefangenen, ruft in mir keine besonderen Gefühle hervor. Ich selber habe nichts von seinem Tod, obwohl das Jahrzehnt seiner Herrschaft sinnlose Kriege, blutige Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden und den Niedergang eines Volkes mit sich brachte. Zuvor hatte er sein eigenes Heim zerstört, den Kern seines Daseins, den Kreis seiner Familie, die Umgebung seines persönlichen Schicksals. Obwohl Milosevic sich weder in der Zelle am eigenen Ledergürtel erhängt noch eine Giftkapsel geschluckt hat - so wie es einige seiner Familienmitglieder taten -, hat er schon seit den ersten Tagen seiner blutigen Herrschaft systematisch an seinem eigenen Selbstmord gearbeitet. [...] Trotzdem empfinde ich an der Totenbahre Milosevics keinen Triumph. Denn was passiert ist, kann durch seinen Tod nicht gesühnt werden. Sein plötzlicher Tod hat seine Verurteilung unmöglich gemacht, und es fällt einem schwer, den eigenen Zorn zu bändigen, wenn man an Milosevics Zynismus und seine Verhöhnung von Menschen und Fakten denkt. Was haben wir davon, wenn wir diesen Tod als Vergeltung für die Ermordung vieler politischer Gegner betrachten, von Ivan Stambolic bis zu Zoran Djindjic, dessen Todestag sich gerade gestern jährte?
Jedenfalls gibt es Erkenntnisse im Fall Milosevic und natürlich Streit in Belgrad um den Ort der letzten Ruhestätte Milosevics.

Spiegel online hat u.a. kleinere Beiträge zu Tribunal lässt Leiche obduzieren, Milosevic wäre verurteilt worden, "Glauben nicht an eine objektive Autopsie" und Reaktionen auf Milosevics Tod: "Er wurde ermordet" online. Auch hier die Frage: Wohin mit Milosevic' Leiche?. Dass dieser Tod die nächste Zerreißprobe für ein geschundenes Volk bringt, ist die bittere Ironie. Jedenfalls kommt nun auch hier die internationale Agenturmeldung: Milosevic starb an Herzversagen. Und folgerichtig gilt auch hier es zu vermelden: Mediziner suchen nach Giftstoffen in Milosevics Leichnam. Gefunden haben diese zumindest etwas: Milosevic soll selbst schädliche Medizin genommen haben. Weil warum? "Milosevic wollte einfache Fahrt nach Moskau":

Wie die Brüsseler Tageszeitung "Le Soir" heute unter Berufung auf einen nicht genannten Mitarbeiter des Uno-Kriegsverbrechertribunals meldet, wurden bereits im Januar bei einer Durchsuchung von Milosevics Zelle im Uno-Gefängnis in Scheveningen nicht verordnete Medikamente sicher gestellt. Nachdem diese entdeckt worden waren, hatten die Richter des Uno-Tribunals dem Zeitungsbericht zufolge über Milosevics Antrag auf Genehmigung einer Reise nach Moskau beraten, wo er sich von Spezialisten behandeln lassen wollte. Der Antrag sei dann abgelehnt worden. Überraschenderweise habe Milosevic dagegen keinen Widerspruch eingelegt.
In diesem Text ist überdies auch der letzte Absatz interessant:
Der österreichische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Wolfgang Petritsch, forderte die Fortführung der Beweisführung gegen Milosevic. Der Prozess müsse fortgeführt werden, um Serbien aus seiner historisch belasteten Situation zu führen, sagte der ehemalige Hohe Repräsentant der EU in Bosnien-Herzegowina in Deutschlandradio Kultur.

Und schließlich auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Obduktion soll Ursache für Milosevics Tod zweifelsfrei klären mit mehreren weiteren Berichten (s. rechte Navigationsleiste).

Ah ja, das Finanzwesen ist auch schon da: Die Financial Times Deutschland meldet Tod Milosevics bringt Uno in Erklärungsnot.

Die taz weiß zu resümmieren: Schlächter Abgang [.pdf]. Die klaren Worte unter dem Titelbild sind erfrischend eindeutig und bringen doch auch Kritik für die verhandelnden Nationen und deren Einrichtungen.

Diese Perspektiven lässt leider der von mir sonst so geschätzte Anton Tantner im Adresscomptoir missen: Milošević verweist zwar mit einem gewissen Recht auf die auch nicht so einwandfreie Rolle handelnder Personen in Deutschland (oder auch Carla del Pontes). Und da gibt es tatsächlich noch einiges zu diskutieren, jenseits der Vereinfachungen. Aber die in Summe untragbare Diktion des Blogs (und seiner Aussparungen) geht letztlich dahin, SM posthum einem Freispruch zuzuführen.

In den Guardian Unlimited blogs findet sich die Feststellung Closure perhaps, but no justice.

Soeben ist ein Hinweis aus dem Redaktionsteam eingetroffen: Globeandmail.com brachte die ausführlichere Darstellung einer AP-Meldung: Heart attack caused Milosevic's death; dazu mehrere Reaktionen mit Informationswert.

Das Edmonton Journal bringt Milosevic died of heart failure und dass es kein Staatsbegräbnis geben würde.

Von einigen der unzähligen Tragödien berichtet Kosovareport (auch hier eine AP-Story): Anger, tears as Milosevic's Kosovo victims regret his death without punishment. Nur zeichnet sich hier - wie auch bei zahlreichen anderen Berichten - eine (wiewohl angesichts der Umstände verständliche) Gefahr ab: Die der Beschränkung auf SM alleine. Er war es sicher nicht alleine, der soviel Leid brachte. Der Opfer ist zu gedenken, aber auch die Täter müssen in Erinnerung bleiben. Beides mit jeweils größtmöglicher Sorgfalt.




Eine Überlegung noch zu den zahlreichen Bildstrecken, die bei den unterschiedlichsten Medien nun geboten werden: Klarerweise finden sich hier sehr viele Bilder von Anhängern Milošević' - aber befremdlich wenige von denjenigen SerbInnen, die mit dem Tod von SM genau kein Problem haben, ganz im Gegenteil. Deren Bedauern geht allenfalls dahin, dass es nicht mehr zu einem Abschluss des Prozesses kommen konnte.




Weitere Updates folgen.


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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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