Cultural Studies - Part 29

posted by PP on 2007/01/04 14:55

[ Cultural Studies ]

Birgit Hofmann (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) bespricht auf H|Soz|u|Kult den im Vorjahr erschienenen Band
Tobias Bevc: Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft. Ernst Cassirer und die Kritische Theorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, 406 pp.
[ISBN 3-8260-2964-X; EUR 49,80]
durchwegs positiv ("kenntnisreiche und lesenswerte Dissertation"). Vor dem Hintergrund der von Cassirer, Adorno, Horkheimer u.a. (von unterschiedlichen Ansätzen her) ausgearbeiteten These, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Versagen der Aufklärung darstelle, geht sie eingangs auf Bevcs Überlegung ein, dass die "Dialektik von Mythos und Vernunft" hier eine zentrale Rolle spielen würde.
Und weiter:
Bevc bedient sich einer sorgfältigen, vergleichenden Textexegese, um diese Grundannahmen zu untermauern. Den beiden Hauptteilen, die sich auf Cassirer einerseits und die Kritische Theorie andererseits verteilen, schaltet er ein kurzes Kapitel zum gemeinsamen zeitgeschichtlichen Erfahrungshorizont vor. Hier werden entscheidende Einflussfaktoren umrissen, die Cassirer mit den Begründern der Kritischen Theorie - Bevc bezieht hier neben Adorno und Horkheimer auch Pollock, Marcuse etc. ein – teilte, wie etwa die Herkunft aus jüdischen bürgerlichen Familien, der Erste Weltkrieg, die Erfahrung der Weimarer Demokratie. [...]
Was bei Cassirer die 'Pathologie des Symbolbewusstseins' ist, entspricht für Bevc dem, was die Kritische Theorie den 'Verblendungszusammenhang' nennt. [...]
Bevc kommt zu dem Schluss, dass beide Theorien trotz nicht zu übersehender Unterschiede feststellten, "daß schon in der Weimarer Republik bzw. im Kapitalismus die Menschen nicht mehr fähig sind, die Realität unverstellt wahrzunehmen". Der Nationalsozialismus kann also bereits auf bestimmte Charaktereigenschaften der Individuen bauen, denn es ist keineswegs nur das neue Herrschaftssystem selbst, welches die Menschen deformiert: Die Kritische Theorie hat hier mit empirischen Untersuchungen unter Einbeziehung der Psychologie – die von Cassirer interessanterweise gefordert wurde – Erhellendes zum "sado-masochistischen" bzw. in den 1960er-Jahren sprichwörtlich gewordenen "autoritären" Charakter beigetragen, wie Tobias Bevc darstellt. Trotz dieser resignativen Diagnosen sieht er die bereits in der ursprünglichen (d. h. nicht habermasianischen) Kritischen Theorie angelegten Möglichkeiten, denkerisch der Verblendung entgegenzuwirken, insgesamt recht optimistisch.
Die Stärke und wissenschaftliche Neuheit der hier vorliegenden Arbeit liegt im Vergleich zweier Theorien, die in der Regel nicht zwangsläufig miteinander in Verbindung gebracht werden. Dieser Vergleich wird von Tobias Bevc auf hohem theoretischen Niveau, äußerst präzise und im Bemühen um größtmögliche Analogie, durchgeführt.
Soweit - so gut. Was Hofmann leider nicht erklärt, ist warum das einst im Besitz von Walter Benjamin stehende Bildnis Paul Klees, der "Engel der Geschichte", wie Benjamin das in seinen "Thesen zur Geschichte" nannte, am Umschlag abgebildet (cf. unten) ist. Ist er das missing link, steht der "Engel" für die Kritische Theorie oder ist er derjenige, der zwischen Mythos und Vernunft vermitteln soll, indem man zuvor den "Sturm vom Paradiese her", der den zernichtenden Geschichtsverlauf darstellt, aus seinen Flügeln nimmt? Bevc gibt hoffentlich Antwort darauf.

http://www.kakanien.ac.at/static/files/31016/bevc.jpg


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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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