Bücher | Books - Part 98

posted by PP on 2006/08/31 23:33

[ Bücher | Books ]

Matthias Stadelmanns Rezension auf H|Soz|u|Kult lässt keine Zweifel aufkommen:

Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest. Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag 2006, 453 pp.
[ISBN 3-936-09663-7; EUR 35,-]

ist ein großartiges Buch geworden und hilft esentlich mit, diesen Aspekt der Kulturgeschichte besser zu verstehen.

Malte Rolf begreift das sowjetische Massenfest einerseits als symbolische, rituelle, inszenierte Form von Politik, anderseits als Kommunikationsgeflecht von Herrschaft und Gesellschaft, von System und Subjekt (über deren gleichzeitige Trennung und Symbiose er ebenso intelligent reflektiert wie darüber, dass auch die "Mächtigen" unter sich Kommunikations- und Verständigungsbedarf hatten und denselben u.a. in den festlichen Inszenierungen verwirklichten). [...]
Unter diesen Annahmen ist das Massenfest ein entscheidender Ort der Realisierung und Vermittlung sowjetischer Politik, aber auch ihrer kulturellen Aneignung durch die Bevölkerung. Herrschaft und Autorität existieren nicht einfach aus sich selbst heraus, sondern bedürfen der Inszenierung, der Sichtbarmachung, um ihre Wirkung in der politischen Hierarchie ebenso wie in der breiten Masse zu entfalten.
Getreu der kulturgeschichtlichen Herangehensweise bilden die propagandistisch aufgeladenen symbolischen Praktiken also die politischen Realitäten längst nicht nur auf idealisierende und stimulierende Weise ab, sondern schaffen sie durch ihre vermittelnde Wirkung erst. Damit wird im Fest die politische Kultur der frühen Sowjetunion erfahrbar –für die Beteiligten (und die Ausgegrenzten) ebenso wie für die Historiker – und zwar nicht nur als schmückendes Beiwerk zum "eigentlich" politisch Faktischen, sondern, weit essentieller, im Sinne grundlegender Strukturen herrschaftlicher Theorie und Praxis.
Malte Rolfs Buch stellt also keine Geschichte des sowjetischen Massenfestes im konventionellen Sinne dar, sondern vielmehr eine Geschichte der sowjetischen Festdiskurse und -rituale. Dafür, dass die ausführlichen, anspruchsvollen, wenn auch bisweilen etwas kreisenden methodischen Reflexionen nicht "blutleer" bleiben, sorgt der regionalgeschichtliche Bezug der Studie. Der Blick auf Woronesch und Nowosibirsk ist weder willkürlich noch Selbstzweck, sondern wählt mit Bedacht zwei geographisch und historisch ganz unterschiedliche sowjetrussische Provinzstädte aus, um die Verallgemeinerbarkeit der kulturgeschichtlichen Analyse an konkreten Beispielen zu überprüfen.
Das Kapitel "Fest als kulturelle Praxis" berichtet in diesem Zusammenhang Wichtiges zu den eigenen Gesetzen der lebenspraktischen „Sowjetisierung“ und "Einfindung" in das System. Doch auch hier, wo es um die konkrete Realisierung der Festkonzeptionen in der Gesellschaft vor Ort geht, bleibt Rolf seinem kommunikationstheoretischen Zugang treu, indem er nicht nach der "Rezeption" des "offiziellen Festdiktats" fragt, sondern nach der "Adaption", also nicht, "ob das Fest ankam, sondern ..., was daraus gemacht wurde".

Und zu guter letzt die Eloge auf den Autor:

Malte Rolfs Dissertation hat viele Verdienste: Sie liefert ein anregendes Beispiel für den kultur- und kommunikationsgeschichtlichen Zugang; sie klärt Strukturen, Hintergründe und Bedeutung des sowjetischen Massenfestes und damit der symbolischen Sphäre von Politik; sie trägt zur argumentativen Begründung der "Selbstsowjetisierung" der Gesellschaft bei; sie verfügt über klare Thesenbildungen und ist – auch für nicht linguistisch "Gewendete" – anschlussfähig hinsichtlich bisheriger Erkenntnisse zu Politik und Kultur in der Sowjetunion. Hervorzuheben ist Rolfs Abstraktions- und Generalisierungsfähigkeit, dank derer er viele Beobachtungen für grundsätzliche, strukturerläuternde Feststellungen fruchtbar machen kann. Grundlage seiner methodisch anspruchsvollen Studie ist eine beeindruckende Fülle von – zentralen und regionalen – Archivmaterialien, vielfältigen publizierten Quellen und interdisziplinärer Sekundärliteratur. Und zu guter Letzt: Der Text ist gut geschrieben, er verbindet einen außerordentlich hohen Reflexionsgrad mit einer messerscharfen, souveränen und kreativen Sprachgestaltung, die durch ihr Niveau auch das eingangs konstatierte "speaking cultural" adelt.

 

 

http://www.kakanien.ac.at/static/files/30623/massenfest.gif


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Senior Editor

Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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