Bildung | Education - Part 5
[ Bildung | Education ]
Die Zeit hat seit längerem die Rubrik "Wieviel Integration braucht Europa" etabliert. Dort findet sich auch der Essay von Ute Frevert "Was ist das bloß - ein Europäer?"Aus Anlass des gescheiterten Gipfels zur gemeinsamen Verfassung macht sich die Autorin Gedanken um die viel beschworene "Identität" der Europäer/innen bzw. Europas, die - so sie nicht in der Gegenwart und Zukunft gefunden werden kann - möglicherweise in der Vergangenheit begründet liegt. Erfreulicherweise sieht Ute Frevert das "gemeinsame Europa" nicht im mythenträchtigen gemeinsamen und ununterbrochenen Streben nach den Werten in aller Munde - 'Demokratie', 'Zivilität' etc. -, die geradezu ausschließlich zu nationalen und apologetischen Geschichtsschreibungen führen, sondern in den vielfältigen Räumen kulturellen Transfers:
Um ein Bewusstsein für historische Zusammengehörigkeit zu wecken, wird man europaweite Prozesse – wie Recht, Religion, Staatenbildung, Handel, Verwissenschaftlichung – herausarbeiten müssen. Und damit die Darstellung nicht zu abstrakt gerät, können Beispiele das europäische Miteinander illustrieren: die Begegnungen auf den großen europäischen Pilgerpfaden nach Rom oder Santiago; die grenzüberschreitenden Wanderungen von Handwerksgesellen und die Arbeitsmigration; den Transfer von Waren und Dienstleistungen; den Bildungstourismus adliger und bürgerlicher Schichten; die Auslandsjahre europäischer Studierender; die geschäftlichen Kontakte von Unternehmern, Kaufleuten und Finanziers; die Auslandspensionate höherer Töchter; die Besuchsreisen zu Kunst-, Gewerbe- und Weltausstellungen und manches mehr. Solche Formen des Austauschs und der Begegnung finden nicht erst unter den Auspizien des modernen "europäischen Projekts" statt[.]So ist gewährleistet, dass auch "das Personal, das Europa nach 1989 hat entstehen lassen; Helden und Heldinnen der Mühen der Ebene, Aktivisten der Herstellung von Normalität" im Projekt der Gemeinschaftsbildung mitberücksichtigt werden. Denn, wie Karl Schlögl in lettre international anmerkt:
Es gibt ein Europa, das wächst: lautlos, fast unbemerkt, unspektakulär. Es wird kaum thematisiert, hat wenig Resonanz, da es von Selbstverständlichkeiten handelt, mit denen sich Berufseuropäer und Konferenzprofis nicht abgeben. Dieses Europa hat fast keine Stimme, weil es nicht von Berufs wegen mit Literatur, Visionen oder politischen Projekten beschäftigt ist, sondern mit der Bewältigung des Alltags und den Routinen, die normales Leben möglich machen. Dieses Europa findet man nicht auf Kongressen, sondern auf Autobahnen, in Zügen, an Grenzübergängen. Hier arbeiten Spezialisten der Logistik, des Speditionswesens, des Marketings, des Immobiliengeschäfts, der Infrastruktur. Sie sind die Konterbandisten des Ausgleichs. Sie haben noch keinen der vielen Preise für Europäertum bekommen, und doch sind sie die Pioniere des neuen Europa: Spediteure, Filialleiter internationaler Unternehmen, Händler, berufsmäßige Grenzüberschreiter.
Ganz andere Ergebnisse brachte der 52. Europäische Wettbewerb, der Schüler/innen aufforderte, zum Thema "europäische Identität" Stellung zu nehmen. So kommt Lea-Kathrin Heursen in ihrem sprachlich, stilistisch und wissenschaftlich beachtlichen Essay zu radikal traditionellen Ergebnissen von Europäertum, das vornehmlich auf der griechischen Idee von Demokratie, der Aufklärung, dem Bildungs- u. Zivilisationsgedanken, eingebettet in das Christentum und der Universalität von Europäertum beruht.
Als Widerspiegelung dessen, was deutsche Schüler/innen erfahren und lernen, ist der formal wirklich hervorragende Essay inhaltlich enttäuschend aufschlussreich. Kaum eine Ahnung von den Griechen, die alle außerhalb der eigenen Gemeinde für Barbaren hielten, kein Gedanke an die Zusammenhänge von Universalität, Zivilisation, Kapitalismus und Kolonialismus/Imperialismus, nichts über die Gegengeschichte zum Rationalismus. Der Beginn des Essays, dass Europäertum supranational und jenseits der Hautfarbe erlernt werden kann, bildet auch den reflektierten Schluss des Essays, der zu Toleranz, Kritikfähigkeit, Solidarität aufruft. In Verbindung mit dem Mittelteil, der die Werte von überlegener Zivilisationsarbeit unter dem Vorzeichen des Christentums festschreibt, heißt das aber, dass alle weiße Westeuropäer werden müssen.
Wo also bleiben an den Schulen die osteuropäischen und die nichteuropäischen Stimmen zum "Weltgeschehen"? Oder wo bleibt die Einsicht in die eigenen Kolonialgeschichten, warum liest man nicht wenigstens auch Foucault (zu dem es eine Flut an verständlichen Einführungen gibt)?
Die Sicht auf die europäischen Dinge aus der Feder Mykola Rjabtschuks bspw. zeichnet ein schönes ergänzendes Bild zum westeuropäischen Utopismus:
Unsere Rede von der “kulturellen Einheitlichkeit” ist wertlos, solange wir die Albaner missachten – weil sie arm sind, die Weißrussen – weil sie russifiziert sind, die lausitzer Sorben – weil sie so wenige sind, und die Georgier und Armenier – weil sie weit entfernt sind von unseren Gärten. [...]Jedoch sollte ich auch nicht so schwarz malen, denn Ute Frevert verweist auch auf das differenzierte Projekt von Eustory, das von der Körber-Stiftung gefördert wird. Die nationale kollektive Erinnerung wurde anhand von Schulbüchern, Momumenten etc. hinterfragt. Um den Bogen zu schließen: Man kann Schulbücher nicht oft genug hinterfragen!
Die Prozesse, die heute in Osteuropa stattfinden, würde ich als Normalisierung bezeichnen. Ohne Zweifel sind sie für Experten interessant, aber nicht für ein breites Publikum[.] Im besten Fall – wenn "Asien" nicht zurückkommt und auch kein neues Bosnien irgendwo explodiert – wird sich Osteuropa erfolgreich marginalisieren und nicht weniger Aufmerksamkeit finden als Griechenland, Portugal oder Island. Wäre das denn so schlimm? Für alte Veteranen – vielleicht, ja. Für die meisten Leute – kaum. Aber die meisten denken gar nicht an den Gartenzaun – weder an den östlichen noch den mittel-östlichen noch an den mittel-süd-östlichen. Die meisten Leute denken an den Garten. Und vielleicht sollte die Ukraine ganz einfach die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen – im Namen von Europäertum, oder Eurastiatentum, oder meinetwegen auch von Australiertum.
Verwiesen sei auch auf die Europa-Essays von Raymond Detrez, von Béla Rásky und meiner Wenigkeit.
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Antworten
Hinterfragen – aufspüren – "verbessern"!?
Das aktuelle Projekt des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung bemüht sich um ein ausdifferenziertes Bild des "Pulverfasses Balkan" in westeuropäischen als auch in südosteuropäischen Schulbüchern.
Einen Schritt weiter geht man bei der Entwicklung eines gesamteuropäischen Bilderkanons – vielleicht einen Schritt zu weit?
Dennoch: Es ist nachgerade wirklich erstaunlich, dass Meursen ausgerechnet die Argumente des "klassischen Bildungsbürgertums" in Anschlag bringt, in Anschlag bringen kann – heutzutage kein Ding der Selbstverständlichkeit mehr, schreien doch Wirtschaft und Gesellschaft (und somit auch: Eltern) häufig nach "mehr Englisch!" und "mehr IT-Kenntnisse!", möglichst ab der Volksschule, besser noch: ab dem Kindergarten. Latein, Griechisch und das Wissen um das (auch: christliche) Abendland ("Religionsunterricht? Um Gottes Willen, nein!") gelten als konservativ, langweilig, unzeitgemäß, ja geradezu als restaurativ. - Umso auffälliger, dass sich die Zugehörigkeit zu einer Elite (gleich, ob damit nun eine Wirtschaft-, Bildungs- oder politische Elite gemeint sei) nach wie vor durch genau die Kenntnisse dieses Bildungskanons definiert – und sei es auch nur ex negativo!
Die Implikationen, die damit einhergehen, sind schwer zu fassen und noch schwerer zu überwinden: Auf der einen Seite stehen jene, die über den "klassischen" Bildungs-Olymp hegemonial verfügen, diesen aber vielleicht doch lieber als kleinen, feinen Treffpunkt für ihresgleichen wahren möchten; auf der anderen Seite stehen die, die gerade noch über die klassische Bildung verfügen, den Erwerb derselben aber der kommenden Generation "ersparen" möchten. So treffen sich – nur scheinbar paradox – die Bekämpfer wie die Verfechter des klassischen Bildungskanons: Die einen, weil sie mit reiner Ausbildung Macht gewinnen wollen; die anderen, weil sie mit klassischer Bildung ihre Macht verteidigen wollen.
Und weiter: Die "Stimme der Osteuropäer", hier vertreten durch den wunderbaren Essay Rjabchuks, klingt in Wahrheit wesentlich unaufgeregter und entspannter, als man vielleicht erwarten könnte: Rjabchuk, der sich in seinem Essay übrigens als Bildungsbürger im klassischen Sinn erweist, rückt vieles gerade, was durch die Postkolonialismusdebatte ein wenig in Schieflage geraten zu sein scheint: Den westeuropäischen Dekonstruktionsdiskurs selber beispielsweise. Dieser ist ein interessanter und hilfreicher – aber er ist, auch wenn das ungern wahrgenommen wird, regional begrenzt bzw. funktionsfähig, was sich dort zeigt, wo er auf Diskurse trifft, in denen es nicht um De-Konstruktion, sondern z.T. um Re-Konstruktion, z.T. ganz schlicht und einfach um konstruktiven Aufbau geht. Rjabchuk wählt die Metapher des Gartens, in dem, ganz pragamatisch, gearbeitet werden muss – aber der Gärtner muss es selber tun, er braucht dafür keinen selbsternannten Landschaftsarchitekten! In diesem Zusammenhang führt der Blick "nach Osten" unter dem Vorzeichen der Postkolonialismusdebatte im Endeffekt weder zu einer vertieften Kenntnisnahme noch zu einer gesteigerten Selbsterkenntnis, sondern erweist sich in seinem tiefsten Inneren geradezu als verzweifelter Versuch des Neokolonialismus, denn: Ex oriente lux!
zum Bildungsbürger/innentum:
Die Schülerin, die wirklich und ohne individuelle Abstriche einen hervorragenden Essay eingereicht hat, bekam offensichtlich diese Werte vermittelt. Was nicht heißt, dass sie auch gut Englisch kann und leidenschaftlich gern das Internet durchsurft. Gerade dort könnte sie auch auf eine Flut von so gearteten Texten stoßen, gerade in/aus Deutschland. Integration, das Stichwort von Ute Fervert will ja ein Konzept finden, das sowohl "multikulturell" verträglich als auch gemeinschaftsstiftend ist. Dumm nur, wenn dennoch mit und ohne Schulbüchern, sondern auch in Projektarbeit, an den grand récits des Westens festgehalten wird. Man muss bildungsbürgerliche Werte - die ich selbst mir im humanistischen Gymnasium und während des Studiums der Klassischen Philologie in Mengen angeeignet habe - nicht verabschieden, um über den eigenen Universalitätsanspruch lächeln zu können. Schon ein wenig Nietzsche-Lektüre zur rechten Zeit hilft dabei, sich selbst den bildungsbürgerlichen Kopf zurechtzurücken.
zur Dekonstruktion und Re-konstruktion: Für mich zeigte Mykula Rjabchuks Pamphlet sehr viel Dekonstruktion: des Mittel-Ost-Europa-Mythos von Gemeinschaftlichkeit, des Widerstands gegen die Sowjetmacht, der 'unvergänglichen' westlichen multikulturellen Werte, der Universalität solcher Werte usf., die alle im "Garten" wiederversammelt werden. Alle Pflanzen müssen im Garten großgezogen werden, dabei sollten nicht wenige die vielen überschatten, so dass sie kümmerlich werden. Gepaart ist dies mit großer Nüchternheit, die den Neokolonialismus sieht und weiß, dass er sich nicht wird halten können (ein Ende dem "geistigen Europa").