Beqë Cufaj: Seine Taten, unsere Welt

posted by Julia on 2008/08/31 00:46

[ War crimes and the ICTY ]

Reflecting on the role of the ICTY, I remembered an article I had read by Beqe Cufaj on Karadzic's arrest, "an opportunity for justice" as B. Cufaj puts it: "As the victims are condemned to eternal silence, the perpetrators have to speak now" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07.08). But we should not believe the "rhetoric of criminals" which denies any responsiblity. Nor should we shift the whole responsibility onto the war criminals - we should rather ask us about our personal responsibility, argues B. Cufaj: We are responsible for shaping the future, while Karadzic can only tell us about the past. Below you will find a copy of the article (in German) which is not available on the FAZ website (any more):

Text: F.A.Z., 24.07.2008, Nr. 171 / Seite 33

Seine Taten, unsere Welt. Was sagt uns Karadzic?

 Von Beqë Cufaj


Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns. So steht es in "Magnolia", dem Film von Paul Thomas Anderson. Der Satz könnte über allen unseren Bemühungen stehen, mit dem schrecklichen Jahrzehnt des Tötens im Bürgerkrieg auf dem Balkan fertig zu werden. Die Verhaftung von Radovan Karadzic kann uns dabei helfen, das Erlebte zu verstehen. Uns, das ist: allen Serben, Bosniaken, Kroaten, Albanern, Ex-Jugoslawen und Europäern.

Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein; sie kommt blitzartig in die Köpfe, sobald Bilder gezeigt, Namen genannt, Wörter gesagt werden. Eine Landkarte von Bosnien-Hercegovina, vom Kosovo oder von Serbien hinter dem Kopf des Nachrichtensprechers genügt, um das ganze Panorama aus Flucht und Vertreibung in unseren Köpfen und unseren Seelen wieder neu zu entfalten. Mit dieser Vergangenheit kann man nicht Verstecken spielen; sie ist überall: an den Grenzen, in den Gräbern, im Himmel und auf der Erde. Und sie hat ihre Symbole: Slobodan Milosevic, Radovan Karadzic, Ratko Mladic, dazu Flüchtlinge, Flugzeuge, Leichen. Aber auch die Opfer, die keine Stimme haben außer dem Klageton ihrer hinterbliebenen Angehörigen, die immer um ihre Zukunft bangen müssen.

Die Verhaftung von Radovan Karadzic ist eine Chance für Wahrheit und Gerechtigkeit. Weil die Opfer dazu verdammt sind, für immer zu schweigen, müssen nun die Täter sprechen. Das tun sie ungern. Sie wollen zurückkehren ins normale Leben und finden nichts dabei, wie Karadzic es als Alternativ-Doktor in Belgrad getan hat, uns über die gesundheitlichen Fragen zu belehren. Die Täter wollen uns sagen: Wir sind nicht vom Himmel gefallen. Wir waren eure Vertreter. Wir sind auch nur ganz normale Menschen. Nur dem Zufall ist es geschuldet, dass wir uns in bestimmte, schwierige Situationen begeben und Entscheidungen treffen mussten, die sich dann unglücklicherweise als falsch, ja, als schrecklich herausgestellt haben. Also, spricht der Täter: Es gibt keine guten oder bösen Menschen, sondern nur gute und böse Taten, was obendrein übrigens eine alte balkanische Redensart ist.

Unsere Aufgabe ist es dabei, diese Rede zu widerlegen. Böse Taten verderben ihre Täter, und diese bringen immer wieder böse Taten hervor. Wir müssen uns alle nach unserer Verantwortung fragen. Aber die Schuld der Täter werden wir dadurch nicht mindern. Sie sind nicht unsere Sündenböcke.

Über Karadzic lohnt es sich weiter nachzudenken. Wie hat er es geschafft, mehr als ein Jahrzehnt einfach so unter uns zu leben? Was hat er über die Vergangenheit gedacht? Konnte er ihr kritisch gegenübertreten? Oder blieb er stets im "energetischen Gleichgewicht", über das er so gern dozierte? Wie stand Dr. Dragan Dabic zu Dr. Radovan Karadzic? War er für ihn eine Art Armeesprecher?

Um ihm näherzukommen, werden wir wohl die Akten der Nürnberger Prozesse noch einmal hervorholen müssen - und finden, dass keine Strafe und keine Reue uns je schadlos halten kann für die Greuel und das Entsetzen, das diese Menschen in ihrer Banalität über uns gebracht haben. Ich weiß, dass vor allem die Deutschen sich schwertun, wenn man mit nationalsozialistischen Tätern Vergleiche zieht. Aber wie ein schönes Gedicht in irgendeiner Sprache und aus irgendeiner Epoche eine universale Botschaft hat - das Schöne eben -, so ist es mit dem Bösen: Auch die Verbrecher haben eine universelle Botschaft. Sie zu formulieren, wird nicht Karadzics Aufgabe sein, auch nicht die des Haager Tribunals.

Am Abend, als Karadzic verhaftet wurde, stellte sich in Belgrad ein junger Mann vor die Polizisten und schrie immer wieder: "Uhapsite me!" (Verhaftet mich!) Doch die braven Polizisten standen verlegen vor dem Polizei-Jeep und wollten ihn nicht verhaften. "Uhapsite me!", schrie der Junge immer wieder und wieder. Nichts passierte. Dieses Bild sagte mehr aus als der Lebenslauf des Radovan Karadzic, der vorgestern Abend in jedem Fernsehsender verlesen wurde. Es war, als wollte die Polizei ihm und uns sagen: Wir können nicht die Zukunft verhaften, erst ist die Vergangenheit an der Reihe - Ratko Mladic zum Beispiel oder Goran Hadzic, der flüchtige Anführer der kroatischen Serben. Ihr könnt euch entscheiden, ob ihr sie eingesperrt haben wollt oder nicht. Wenn nicht, kommen die alten Geister immer wieder zurück!

Bestimmt ist Radovan Karadzic seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr geflogen. Am Wochenende wird er wohl zum letzten Mal fliegen. Wir kennen nicht die genaue Flugroute, aber Karadzic kann fliegen, wohin er will - überall wird er die Zeichen seines Wirkens sehen, die Massengräber und Wüsten, die er geschaffen hat, aber auch das Kosovo, von wo seine Eltern stammen, die schönen und schwarzen Wälder von Montenegro, wo er seine Kindheit verbrachte, Bosnien, wo er sich als junger Mann in seine Ljiljana verliebte, Belgrad, wo er sich als Dichter und Weltmann so gerne zeigte und endlich niederließ. Hinter Sarajevo kann er vielleicht auch die Berge von Pale sehen, seiner "Hauptstadt". Und wenn er über Srebrenica fliegt, wird er wohl ein bisschen gedankenverloren in seinen Unterlagen blättern. Es muss uns nicht mehr empören. Die Welt, die er hinterlässt, gehört jetzt uns.

Beqë Cufaj wurde 1970 in Deçan im Kosovo geboren. 2005 erschien im Zsolnay Verlag sein Roman "Der Glanz der Fremde".

(note: B. Cufaj has also published an article on Milosevic)

 


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