Kollektivisierungsutopie und Prostitution

posted by Amalia Kerekes on 2007/11/30 17:29

[ Fallstudien | Case Studies ]

Close reading revisited - gleich zweimal im Rahmen eines an den Budapester, Szegediner und Pécser Germanistiken laufenden Forschungsprojekts zu Wissenschaftsbildern und kulturellen Techniken. Alexandra Millner und Béla Rásky besprechen mit dem Instrumentarium der Gender Studies und der Sozialgeschichte Feuilletons aus den Jahren 1905 und 1929.

Ziel der beiden Fallstudien war, kulturgeschichtliche Kontexte auf der Basis textnaher Lektüren auszubreiten und somit die Gattung Feuilleton nicht nur als Illustration sozialhistorischer Problemstellungen, sondern auch als in seiner Interdiskursivität äußerst spannende Textur zu seinen Ehren zu verhelfen. Durch die Berücksichtigung des meistens vernachlässigten journalistischen Umfelds, der Gesamtstruktur der Zeitungen sowie durch die Interpretation der in beiden Fällen spektakulären und utopistischen Überzeugungsmechanismen liefern beide Beiträge Einblicke in damals lebhaft geführte Debatten über die Frage der Prostitution und der sozialen Zukunftsplanung.

Max Winter, aktuell nicht zuletzt dank der vor kurzem zu Ende gegangenen Wiener Buchwoche, deren Urbild er in der Zwischenkriegszeit prägte, traute sich 1929 auf das ihm eher fremde Terrain der Utopie: Der Schöpfer der österreichischen Sozialreportage, wie dies auch in der Ausstellung Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends - Wien, Berlin, London, Paris, New York im Wien Museum und im gleichnamigen Katalog umfassend dokumentiert wurde, findet laut Béla Rásky in seinem sozialdemokratischen Kollegen, dem Kunst- und Architekturkritiker Max Ermers einen wohlwollenden Kritiker seiner Utopie Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025. Zwei Sozialdemokraten treffen aufeinander, allerdings in einer Wiener Tageszeitung, die bemüht war, von der Sozialdemokratie stets auf eine gewisse Distanz zu gehen. Eine parteipolitische Auseinandersetzung scheint demnach unterbunden zu sein - was bleibt, sind kleine Seitenhiebe, die auf die grotesk anmutenden Vereinheitlichungsmaßnahmen in Winters Entwurf abzielen. Die Lektüre der Besprechung ruft historisch-ideologisch leicht identifizierbare, in der Retrospektive dennoch mehr als befremdende Pläne der Kollektivierung in Erinnerung.

Der Diskussionsbeitrag des Musikhistorikers Paul Zschorlich Prostitutions-Utopien besticht hingegen trotz Reformeifer durch die von Alexandra Millner herausgestellte prototypische männliche Perspektive der damaligen Zeit. Die Fallstudie bietet ein breites quellenkritisches Spektrum von jenen Diskursen, die in Zschorlichs Ausführungen gestreift werden, und somit eine Zusammenschau jener Diskussionsfelder, die in einer kompakten, verkürzten Form mal ins Lächerliche gezogen, mal als Bestätigungen einer wertkonservativen Anschauung ins Treffen geführt werden.

Die CD-ROM, die noch weitere (ungarischsprachige) Fallstudien zu den Interpretationsmöglichkeiten der Gattung "Feuilleton" sowie 140 Feuilletons auf Deutsch (und in ungarischer Übersetzung) aus den Bereichen der kulturellen Techniken im Zeitraum 1867-1939 enthalten wird, erscheint Ende Dezember.


Antworten

< previous Posting next >

Topic next >>

New Releases

This is a space for the presentation and discussion of Kk.rev's newly released articles and reviews.
You can contact us via an email to redaktion@kakanien.ac.at.
> RSS Feed RSS 2.0 feed for Kakanien Revisited Blog New Releases