Spatial Turn? - Part 2

posted by WFischer on 2007/02/22 16:34

[ Spatial Turn? ]

Im Anschluss an jede Diskussionsveranstaltung erscheint auf WieHN-RAUM Dokumentationsmaterial zum jeweiligen Nachmittag und zu den präsentierten und diskutierten Themen. Hier der erste Beitrag von

Gerhard Meißl

(Wiener Stadt- und Landesarchiv)

Zur Geschichte meines „spatial turn" in der Stadtgeschichte


Meine erste systematische Auseinandersetzung mit dem Raum
fand im Rahmen eines Projekts „Entwicklung der betrieblichen Sozialstrukturen
in den Kronländern Cisleithaniens" am Institut für Wirtschafts- und
Sozialgeschichte der Wiener Uni um die Mitte der 1970er Jahre statt. Das war,
wie es Simon Gunn in einer Synopse zum Stellenwert des Raums in der
Stadtgeschichtsforschung pointiert feststellt (und der als Diskussionsgrundlage
des ersten Nachmittags diente), vor allem eine Sammlung empirischer Daten, und
das nicht oder kaum reflektierte theoretische Verständnis dahinter war das des Raums
als eine Art abstrakten Behälters oder einer Bühne
, wo sich soziale Beziehungen abspielten und soziale Strukturen
formten. Raum als eine Kategorie, die sich relational aus den Interaktionen
handelnder Individuen und Gruppen im Zeitablauf entwickelt, und die ihrerseits
als sozial produzierte wieder auf
die Produzenten, auf deren Erfahrungen, Einstellungen etc. zurückwirkt, kam
darin nicht vor.

Mit meinem Überwechseln zum „Historischen Atlas von
Wien
" (HAW) Ende der 1970er Jahre hatte sich dieser Zugang nicht
grundlegend geändert. Im Vordergrund stand jetzt lediglich das kleinräumige
Mapping bestimmter Strukturen des Produzierens, des Wohnens, bestimmter Merkmale
der Wohnbevölkerung, der Ausbreitung technischer Infrastrukturen etc. Das
Konzept des Atlas sieht wohl die Visualisierung von Strukturverschiebungen im
Zeitablauf und damit die Darstellung von Prozessen vor, das vielfältige und komplexe
Aktionsgeflecht
der Stadtbewohner/innen,
das den nüchternen Kartendarstellungen zugrunde liegt, kann er freilich nicht
wiedergeben. Michel de Certeau hat dieses Problem in seiner „Kunst des
Handelns" eindrucksvoll erörtert - dass Karten nur Orte im Sinne örtlicher
Fixierungen wiedergeben können, nicht aber die konkreten Bewegungen und
Interaktionen der Akteure im Raum. Das Programm des HAW sieht darüber hinaus
vor, die Karten durch Kommentarbände zu ergänzen, in denen die darin
dargestellten Entwicklungsstränge in einen breiteren, historisch kontingenten
Kontext gestellt werden – aber auch dieses Konzept war nach meiner
jetzigen Sicht ursprünglich von einer zu globalen Sichtweise ökonomischer,
technologischer und sozialstruktureller Tendenzen angeleitet, ohne adäquate Berücksichtigung
historisch gewordener räumlicher Differenzierungspfade.



Eine Art Damaskuserlebnis war für mich die Lektüre von
Das Ende der Massenproduktion" von Michael Piore und Charles Sabel Mitte
der 1980er Jahre. Dort wurde konsequent die historische Notwendigkeit der
großindustriellen Massenproduktion in Frage gestellt und auf zahlreiche
ökonomisch erfolgreiche Beispiele flexibler Spezialisierung von klein- und
mittelbetrieblichen Produktionsnetzwerken verwiesen, die in diversen Regionen
wie der Emilia Romagna, Baden Württemberg oder Solingen entstanden waren. Einer
ihrer Hauptargumentationspunkte für die Erklärung dieser Entwicklung ist die
Abstützung der Ökonomie durch ein in traditionellen sozialen und kulturellen
Praktiken eingebettetes lokales Produktionsmilieu, das sich auch den modernen
überregionalen Zwängen nur bedingt anpasst. Wie ich später erkennen musste, war
dieser Interpretationsansatz gar nicht so neu - schon vor der Wende zum 20.
Jahrhundert hatte einer der Gründerväter der klassischen Ökonomie, Alfred
Marshall, für solche regionalspezifische Entwicklungen den Terminus „industrial
district“
vorgeschlagen, in denen eine
„industrial athmosphere“ herrsche, die man nicht so ohne weiteres anderswohin
verlegen könne - „an athmosphere cannot be moved“.



Auf einen solchen „industrial district“ stieß ich auch in
Wien. Um 1800, am Beginn des Manufakturzeitalters, entwickelte sich in
Gumpendorf und am Schottenfeld (6., 7. Bez.) ein Zentrum der Seiden- und
Schafwollverarbeitung, netzwerkartig organisiert, bestehend aus zahlreichen
Verlegern, kleinen Meistern, Zulieferbetrieben und tausenden HeimarbeiterInnen.
Mit dem Übergang dieser Branchen zur industriellen Massenproduktion um die
Mitte des 19. Jahrhunderts verfielen diese Produktionen zwar, der „industrial
district“ blieb aber bestehen, er wurde nun von einer anderen Leitbranche
dominiert, dem Bekleidungsgewerbe, das aber nach demselben Organisationsmuster
strukturiert war - Verleger, kleine Meister, Zulieferer, HeimarbeiterInnen.
Obwohl mit dem weiteren Fortschreiten der Industrialisierung das Stadtgebiet
sich zunehmend in homogenere Teilzonen ausdifferenzierte - Industrie- und
Arbeiterwohngebiete, City, bürgerliche Wohngebiete - blieb dieser Bereich bis
in die Zwischenkriegszeit die beschäftigungsstärkste Zone des Wiener
Sekundärsektors. Es wäre zu simplifizierend, diese Situation einfach auf ein
Zurückbleiben Wiens in der ökonomischen und urbanen Entwicklung zu reduzieren,
wie es häufig geschah. Meine These ist vielmehr, dass dieser Sozialraum in
langer rekursiver Praxis diese Art des Produzierens gleichsam erlernt hatte
-in Luhmann’scher Terminologie
den Sinn in dieser Art des Produzierens gefunden hatte - und eben eigensinnig
aber erfolgreich darauf beharrte. Erst mit dem Durchbruch des Fordismus und der
fordistischen Stadtplanung ab Mitte der 1950er Jahre ging dieser räumliche
Eigensinn
verloren. Bemerkenswerterweise
erleben jedoch der 6. und 7. Bezirk seit den 1990er Jahren eine
produktionsräumliche Renaissance, diesmal freilich nicht mehr in der
Sachgütererzeugung, sondern bei den produktionsbezogenen Dienstleistungen und
den <i>creative industries</i>, die typischerweise ebenso
netzwerkartig funktionieren.



In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen wichtigen
weitern Aspekt hinweisen: auf die unscharfen Grenzen und die Durchlässigkeit
diesesRaumes. Im Fall von Wien
wird zwar immer wieder und zu Recht die Hierarchisierung des Stadtgebiets und
der Zerfall in Zonen höchst unterschiedlicher Wohn- und Lebensqualität betont,
bei unserem industrial district ist aber
nicht zu übersehen, dass die Vernetzung vor allem bei den Meistern und
Heimarbeiter/innen über den Gürtel in die Außenbezirke hinausreichte, und dass
viele der in den angrenzenden Außenbezirken Wohnenden ihre Arbeitsstätte im 6.
oder 7. Bezirk hatten. Im Sinne des prozesshaften Verständnisses
der Konstitution von Räumen sollten wir trotz aller Hierarchisierungstendenzen
und der Homogenisierung von Teilräumen nicht die Vielfältigkeit und Hybridität
des Wiener Raumgefüges übersehen. Ich habe deswegen einmal dem Bild der
hierarchischen das der heterarchischen Stadt gegenübergestellt.



Und noch ein Aspekt scheint mir wichtig: Im Stadtdiskurs
wird sehr stark der Anspruch auf Kontrolle von Stadträumenund von Ausgrenzung von Unerwünschten und
Unkontrollierbaren
betont, und im Besonderen
gilt das für Produktionsräume. Die jüngere Organisations- und Arbeitssoziologie
hat dagegen die Unmöglichkeit einer völligen Kontrolle der Produktion und die
bei aller Machtasymmetrie bestehenden Handlungsspielräume auch von
untergeordneten Arbeitskräften und daher die Notwendigkeit eines gewissen
Minimalkonsenses hervorgehoben. Sie spricht dabei von „Mikropolitik“ - eine
räumliche Metapher - und hat dabei die zahllosen alltäglichen Konflikte und
Aushandlungsprozesse am Arbeitsplatz im Auge. Gerade das tief in den Stadtraum
diffundierende und komplexe Netzwerk des Wiener industrial district
dürfte viele Möglichkeiten für solche Mikropolitik eröffnet haben. Mir scheint
das bei aller Ausbeutung und Selbstausbeutung gerade der Heimarbeit ein
untersuchenswertes Gebiet zu sein, sowohl realräumlich wie auch als
Forschungsfeld. Ich möchte mich daher zum Abschluss wieder auf Michel de
Certeau beziehen, wenn er der umfassenden Strategie des Systems die
vielfältigen Taktiken der handelnden Subjekte gegenüberstellt, mit denen sie
zwar das System nicht überwinden, aber umdeuten oder unterlaufen können.



Literaturhinweise:



Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988.

Simon Gunn, „The spatial turn: changing histories of
space and place", in: Identities in Space: Contested Terrains in the
Western City Since 1850, S. Gunn and R.J. Morris (Hgg.), London: Ashgate, 2001,
1-14.

Willi Küpper/Günther Ortmann (Hgg.), Mikropolitik.
Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, 2. Aufl. Opladen 1992.

Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft,
Frankfurt a. M. 1997.

Alfred Marshall, Principles of Economics, Repr. 8th Ed.
Philadelphia 1949.

--, Industry and Trade, London 1919.

Gerhard Meißl, „Hierarchische oder heterarchische Stadt?
Metropolen-Diskurs und Metropolen-Produktion im Wien des Fin de siècle",
in: Roman Horak u.a. (Hgg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, Wien 2000,
Bd. I, 284-375.

--, „Netzwerke oder Hierarchien? Zur Entstehung
metropolitaner Produktionsräume im Spannungsfeld von historischer Einbettung
und ökonomischer Rationalität am Beispiel Wiens im 19. und frühen 20.
Jahrhundert", in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien
(JbVGStW) 59 (2003), 197-217.

--, „Schottenfeld - Brillantengrund - Grünbiotop. Notizen
zur wechselhaften Karriere eines urbanen Wirtschaftsraumes", in: JbVGStW
60 (2004), 193-206.

Michael J. Piore/Charles F. Sabel, Das Ende der
Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr
der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin 1985.

Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu
einer Soziologie des Raums, Frankfurt a. M. 2006.


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