Spatial Turn?

posted by WFischer on 2007/02/16 12:33

[ Spatial Turn? ]

Spatial Turn in der Wiener Stadtgeschichtsforschung?

Darstellung der Impulsreferate vom 30. Jänner

Grundidee der Veranstaltung war zu diskutieren, wie die Umorientierung der Geschichtswissenschaften der 80er Jahre, die gemeinhin als spatial turn bekannt ist, in der Wiener Geschichte vor sich gegangen ist. Welche Strömungen sind wienspezifisch, welche VorläuferInnen und VorreiterInnen gab es? Mit welchen konkreten Auseinandersetzungen um den städtischen Raum war der historiographische Diskurs (nicht) verbunden? Wie beeinflussten einander die Disziplinen und Szenen? Welchen Einfluss hatte der Primat des Fin de siècle?

Die Diskussion an diesem Nachmittag kreiste im Wesentlichen

  • um Möglichkeiten, verschiedene Herangehensweisen an räumliche Phänomene zusammenzubringen (wirtschaftsgeschichtlich, geographisch, kulturgeschichtlich)
  • um die historische Determiniertheit von Räumen (Stichwort Traditionen, Raumgedächtnis) und
  • um die Bedeutung und den Charakter von "umstrittenen Räumen".
Impulsreferate hielten Wolfgang Maderthaner, Gerhard Meißl, Walter Matznetter, Siegfried Mattl, Anna Schober und Andreas Brunner (CVs siehe Posting vom 30. Jänner 2007). Eine Darstellung der Diskussion folgt in einem weiteren Posting. Eröffnet wurde der Nachmittag durch Archivdirektor und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Stadtgeschichtsforschung Ferdinand Opll.

Wolfgang Maderthaner (Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung) gebrauchte als Allegorie für den Geist der innovativen Wiener Geschichtsschreibung, die sich für die Selbstbehauptung und Repräsentation der an den Rand Gedrängten in der Großstadt interessiert, den Pete Seeger Song Turn, turn, turn in Anspielung auf die diversen «turns», die neben dem räumlichen in der jüngeren Geistesgeschichte registriert wurden. Als Beispiel für seine und die Arbeit seiner Kollegen beschrieb Maderthaner eine Teuerungsdemonstration des Jahres 1911 als Attacke aus den Vorstädten auf die Innenstadt (detailliert beschrieben gemeinsam mit Lutz Musner in Anarchie der Vorstadt, 17-37). Jugendliche nutzen ihre Ortskenntnis gegenüber den "Bosniaken", den eingesetzten Truppen. In diesem Aufstand zeigten sich neue Schichten auf der Straße: MigrantInnen, Jugendliche und Frauen.

Gerhard Meißl (Wiener Stadt- und Landesarchiv) beschrieb «seinen» spatial turn im Feld der Industriegeschichte, bzw. der Geschichte von Produktionsräumen. Zunächst ging es nur um das Sammeln von Daten aus einem als Behälter oder Bühne verstandenen Raum, bevor es in Richtung eines relationalen Verständnisses des Raumes ging, in dem es vorstellbar ist, dass sich Sozialräume die Produktion aneignen können (statt nur umgekehrt). So entwickelte sich ein Verständnis eines vernetzten hybriden Raumes, wo Vorstädte und Innenbezirke nicht so scharf getrennt sind. Auch die Hervorhebung der Kontrollfunktionen sozialer Räume und des Widerstandes gegen sie, wie bei Maderthaner, relativierten sich so: die heterarchische Stadt entzieht sich der totalen Kontrolle.

Hier wäre es interessant zu diskutieren ob diese Differenzen vom Definitionskontext abhängig sind, ob etwa eine sozialräumliche Betrachtungsweise zu anderen Ergebnissen kommt als eine soziokulturelle, wobei sich beide nicht unbedingt widersprechen müssen.

Walter Matznetter (Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien) sprach quasi als Vertreter seiner Disziplin und stellte den Begriff spatial turn insofern in Frage, als ein solcher "turn" aus nahe liegenden Gründen in der Geographie nie stattgefunden habe: was diskutiert wurde, war eher ein cultural turn. Edward Soja, der in den anderen Disziplinen als Vorkämpfer wahrgenommen wird, spiele in der Geographie eher die Rolle eines Einzelkämpfers. Zwar habe es im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Innovationen des Raumbegriffs gegeben (morphogenetisch, kulturgenetisch, sozialräumlich, mental maps), doch behandelten auch diese den Raum im Prinzip als reinen Behälter. Ein neuer Raumbegriff ist eher rezent und versteht den Raum als relational, mitunter "schwabbelig" und inszeniert. Diese Umdefinierung, auch in den anderen Disziplinen, war vielfältiger und gespaltener gewesen, als der Begriff Wende (turn) nahe legt.

In diesem Sinne ist spatial turn nicht als eine Bewegung zu verstehen, die den Raum in den Mittelpunkt stellt, sondern die einen anderen, relationalen, Raumbegriff entwickelt.

Siegfried Mattl (Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft) verwies auf die Verräumlichung als wesentliche Neuentwicklung in der Ideengeschichte der letzten Dekaden, im Gegensatz zum genealogischen Denken, insbesondere in der Geschichtsforschung, begleitet von einem Material- und Dokumentenwechsel. In Wien habe besonders das Konzept von Wien als der Geburtsstadt der Moderne in den 80er Jahren nach Antworten verlangt. In der Folge gab es Forschungen zur Raumkonstruktion und deren Kanälen (Sprache u.a.) sowie deren Kommerzialisierung und Konsumtion, wobei insbesondere in der Beschäftigung mit Film und Raumrepräsentation auf Partizipation (des Publikums) fokussiert wird (urbane Öffentlichkeit). Mit oral-history-Methoden lässt sich zum Beispiel zeigen, wie Konsumräume konstruiert und adaptiert wurden.

Hier zeigt sich ein wesentlicher perspektivischer Unterschied zwischen Ansätzen aus geisteswissenschaftlichen Kontexten zu denen aus der Geographie. Überschneidungen wiederum wurden in den beiden letzten Referaten deutlicher.

Anna Schober (Institut für Zeitgeschichte) bezog sich noch stärker auf ein konstruktivistisches Raumkonzept und verwies als wichtiges Ereignis der Foucault-Rezeption in Wien auf die Ausstellung «Blumen des Bösen» (Katalog), die bereits in den 80er Jahren eine Geschichte der Armut in Wien und Prag anhand konkreter Orte der Ausgrenzung, wie Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten, versuchte. Zentral ist für Schober der «umstrittene Raum» gemäß einer kritischen Lektüre von Lefèbvres Production de l'espace (ein evolutionistisches Konzept). Besonders KünstlerInnengruppen der 70er und 80er Jahre praktizierten diesen Raumbegriff in Wien (siehe z.B. die a_schau im Wiener Architekturzentrum) - auch die Neubespielung städtischer Räume durch neue soziale Bewegungen (ein Vorgriff auf Brunners Referat) rief das Verlangen nach der Erforschung dieser besetzten Stadt hervor.

Hier bieten sich Parallelen zu Meißls heterarchischer Stadt. Schobers anti-essenzialistisches Konzept des Raumes, das Körper, Identitäten und Raumaneignung in Verbindung bringt (den Raum für Körper aneignen), korrespondiert mit dem von Matznetter und Meißl erwähnten relationalen Raumbegriff. Schober äußert sich skeptisch zum Begriff spatial turn, begrüßt aber die Tatsache, dass er offenbar Diskussionen ermöglicht.

Andreas Brunner (Verein für die Geschichte Homosexueller Lebensweisen in Österreich) problematisierte zunächst den Begriff Queerness für eine räumliche Geschichte, da schwule und lesbische Raumnutzungen (gerade historisch) zu stark divergieren und charakterisierte schwule Stadtgeschichte als eine Stadtsicht aus dem «Untergrund», in dem Sinne dass Schwule im Raum fast unsichtbar waren, weil ihre Lebensweisen in Österreich durch den §191b kriminalisiert wurden. Wienspezifisch war, dass gerade repräsentative Orte, zentrale Parkanlagen, für das Cruising genutzt wurden. Die schwule Raumnutzung war aber auch klassenspezifisch (damaliger Kolowratring vs. Prater oder Spittelberg), wobei die höheren Klassen in den proletarischen Bezirken flanieren konnten, nicht aber umgekehrt. Schwule Stadtgeschichte hat keinen institutionellen Rückhalt und ist eng verbunden mit der Geschichte schwulesbischer Selbstrepräsentation in der Stadt, von der Etablierung der Rosa-Lila-Villa bis zur Regenbogenparade, beides in den 80er Jahren (siehe den Katalog der Ausstellung geheimsache:leben).

Hier bieten sich wiederum interessante Schnittpunkte zu Maderthaner und Mattl, an Hand der "anderen" Raumnutzungen, insbesondere im Wiener Prater.

Weitere Links:

Pete Seeger tells how he came to write Turn, Turn, Turn

Literaturhinweise:


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