Straßenmassen
[ Stadtbesetzung ]
Als Neuauftakt für den gegenwärtigen Weblog hätte wohl auch ein erfreulicheres Ereignis fungieren können, aber es ist nun mal so: Vorgestern, im Rahmen der Veranstaltungsreihe Abschiede 1938. Die Vernichtung des geistigen Wien, veranstaltet von IFK, der Kulturabteilung der Stadt Wien - Wissenschafts- und Forschungsförderung/Wiener Vorlesungen (MA7) und der Wienbibliothek im Rathaus (MA9), konnte man einem Beitrag von Michael Gamper unter dem Titel Ich und die Menge. Massenpsychologie und Massenpolitik im Wien der Zwischenkriegszeit beiwohnen, der allerdings etwas enttäuschend wirkte.
Wohl eines der spannendsten Themen, was Raumpolitik und Stadtgeschichte betrifft, verbirgt sich hinter einem solchen Titel, dessen würdige Bearbeitung man dem Vortragenden ganz und gar zugestanden hätte, zumal Gamper mit seiner voriges Jahr publizierten und fast 600 Seiten umfassenden Monografie Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930 als profunder Kenner dieses Themenbereichs gilt. Im Gegensatz zu dem im Titel und in der Vorankündigung (am ausführlichsten hier zu lesen) implizierten Streifzug durch die literarischen, politischen und historischen Bearbeitungen, konzentrierte sich Gamper v.a. auf psychologiegeschichtliche Aspekte, was natürlich zum Kern der Sache gehört (und für Wien, das sich gern als Wiege verwandter wissenschaftlicher Diskurse sieht, sehr wohl von besonderem Interesse ist), alleine: Mit dem Aufrollen der einschlägigen psychologischen Ansätze, das ausschließlich allgemein bekannte Werke von Le Bon, Broch und Canetti im Schilde führte, sowie mit dem Heranziehen von Musils Demonstrationsschilderung ohne die Thematisierung ihres fiktionalen Charakters ist nicht besonders viel getan.
Zum Schutz des Vortragenden immerhin: Die Gattung der Wiener Vorlesungen, die ja das lobenswerte Ziel der Wissenschaftspopularisierung verfolgen, begünstigt natürlich kaum eine tiefer greifende Analyse des Phänomens Masse in der Zwischenkriegszeit, sie muss aber auch nicht notwendig zu einer etwas oberflächlichen Behandlung verführen.
Im Nachhinein und von der anderen, geschützten Seite des Podiums ist es natürlich leicht, klüger zu sein - aber ich musste mich fragen, ob man durch das Fokussieren auf ein Fallbeispiel und durch eine etwas leichtere Tonart nicht viel mehr hätte zeigen können. Besonders Letzteres fehlt mir in der letzten Zeit immer mehr: Warum muss das Lachen als ein Stiefkind aus den wissenschaftlichen Vorträgen verbannt werden?
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forschung ediert und publiziert zur Stadtgeschichte und veranstaltet die Diskussionsreihe.
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