Zwischen Ritual und Tabu

posted by ush on 2010/03/13 13:04

[ Interkulturalität ]

Zwischen Ritual und Tabu. Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur
Colloquium: Cairo, 03.-07.11.2010
Bewerbungsschluss: 30.04.2010

In Verbindung mit der Außenstelle des DAAD in Cairo lädt die Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) zu einem Colloquium vom 3.-7. November 2010 ein. Da das Colloquium in den Räumlichkeiten des DAAD stattfinden wird, muss die Teilnehmerzahl auf maximal
50
begrenzt werden.

Aus den eingehenden Referatsanmeldungen mit abstract (im Umfang von max. 1 Seite = ca. 2500 Zeichen) wird vom Beirat eine Auswahl getroffen nach Maßgabe der fachlichen Qualität und thematischen Einschlägigkeit; die MENA-Zugehörigkeit und ein GiG- bzw. DAAD-Bezug (Alumni, Mitglieder) können als ergänzende Kriterien herangezogen werden. Ein Teil der Referenten kann auf Antrag einen Zuschuss zu den Reisekosten erhalten. Nach Abschluss der peer reviews wird das Programm endgültig formuliert und publiziert.

Interessenten mögen sich bitte ab sofort – spätestens jedoch bis zum 30.04.2010 – anmelden bei Frau Anne Wildfeuer, DAAD Cairo Office, 11, Sh. Saleh Ayoub, Zamalek, Cairo; Tel.: +20 2 2735 27 26-108; e-mail: anne.wildfeuer@daadcairo.org

Rituale und Tabus dienen in allen Gesellschaften zur Regulierung von sozialem Handeln, insofern sie Erwartungenüber Ordnungsmuster und Verhaltensschemata festigen sowie Sanktionsmechanismen für regelwidriges und regelkonformes Verhalten bereitstellen. Die Regeln für Rituale und Tabus indes sind nicht immer leicht und allgemein zu formulieren, denn sie können nicht nur in hohem Maße von Kultur zu Kultur variieren, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft gibt es hochgradig gruppen- und situationsspezifische Unterschiede (Alter, Bildungsgrad, Lebensraum, sexuelle Zugehörigkeit und Orientierung, kultureller Hintergrund).

Sozialisation und moderne Erziehung verankern Rituale und Tabus im Routinewissen des Handelnden, das dann zwar noch als Orientierungswissen über die kontextuell angemessene Verwendung sprachlicher Rituale bzw. die Beachtung oder Vermeidung tabuierten Verhaltens vorhanden, als ätiologisches Wissen (d.h. als Wissen über Ursprung und Inhalt der Rituale und Tabus) hingegen verloren gegangen ist.

Insoweit Rituale und Tabus sprachlich sedimentiert und Gegenstand ästhetischer Modellierung sind, finden sie (außer in der Anthropologie, Ethologie, Ethnographie der Kommunikation) auch in den Textwissenschaften zunehmend Beachtung. Während Rituale als Interaktionsrituale (Erving Goffman) heute etablierter Gegenstand der (empirischen, interkulturellen) Linguistik sind, bleibt die Untersuchung gerade von verbal manifestierten Tabus (Kommunikationstabus, Sprachtabus und Tabudiskurse) weiterhin Desiderat der Sprach- und Kulturwissenschaften im allgemeinen sowie wie der interkulturellen Germanistik im Besonderen.

Unter der Voraussetzung, dass der Erfolg interkultureller Verständigung (die kommunikative Kompetenz) nicht nur von der Beherrschung einer Sprache abhängig ist, sondern auch von dem Verstehen einer Kultur, ist eine interkulturell orientierte Germanistik eben als Fremdkulturforschung zu konzipieren. Und insofern der Konstruktivismus des Individuums in Wechselwirkung mit seinem jeweiligen gesellschaftlichen Herkommen steht (Wilhelm v. Humboldt), tritt das Interesse an diesen (potenziell dissenten, gar konfliktären) gesellschaftlichen Bedingungen interkulturellen Gemeinschaftshandelns in den Vordergrund.

Die daraus möglicherweise folgenden Unterschiede in der kulturellen Prägung von Individuen und ihrer Auslegungen sprachlichen Handelns treten nun besonders dort deutlich zu Tage, wo es zu Regelwidrigkeiten oder Normverletzungen kommt, die die Verständigung aufgrund der (ggfs. versteckten) Differenzen der in Frage stehenden Normen und Ordnungsschemata 'problematisch' werden lässt. Gerade Rituale als zugleich traditionsbildende und ordnungsschaffende routinisierte Handlungen und Tabus als zugleich selektiv wirkende und mit Sanktionen belegte (ggfs. unterdrückte) Handlungen, sind symptomatisch für spezifische kulturelle Identitäten und führen im Falle von unterschiedlicher kultureller Prägung zu einem besonders starken Fremdheitserleben.

Lerner einer fremden Sprache (hier des Deutschen) sollten daher nicht nur für die Tabus der Eigen- und Fremdkultur sensibilisiert werden, sondern auch ein Arsenal an Reparaturmechanismen und Kompensationsstrategien an die Hand bekommen, um im Falle einer Tabuverletzung dem Abbruch der Kommunikation entgegensteuern zu können. Dies aber führt zu der Frage, welche sprachlichen Mittel eine Bewältigung bzw. im Vorhinein eine Vermeidung von Tabus ermöglichen. Dazu kann auch die verständige Lektüre ihrer literarischen Problematisierung fruchtbar beitragen.

Hier nun setzt das im vom deutschen Auswärtigen Amt ausgerufenen Jahr der deutschen Sprache und im Zusammenhang mit dem DAAD-Jubiläum in Cairo geplante Colloquium mit seiner spezifischen Zielsetzung an. In den letzten Jahren ist bekanntlich die Auseinandersetzung zwischen westlicher und muslimischer Welt in den Vordergrund der gesellschaftlichen Diskurse gerückt. Nicht zuletzt auch durch die Medien ist das Thema im kollektiven Bewusstsein präsent. Die Bemühungen um Verständnis der jeweils anderen Kultur werden, wenn überhaupt, aus einer Position der mutuellen Skepsis initiiert, die sich gerade an der Differenz der Rituale, dem oft krass unterschiedlichen Zuschnitt der Tabus entzündet.

Rituale finden sich im deutschen wie im muslimisch-arabischen Kontext nicht nur in religiösen Zusammenhängen, sie strukturieren und formalisieren in hohem Maße ganz alltägliche Handlungen. Rituale der (ersten) Begegnung und Routinen des Grüssens erleichtern die Interaktion (Hess-Lüttich); vielfach machen sie das Zusammenleben überhaupt erst möglich. Auch der Umgang mit Tabus entzieht sich häufig dem diskursiven Bewusstsein, weil das internalisierte Wissen darüber ihre Handhabung automatisiert. Dass sich die soziale Praxis von Ritualen und Tabus innerhalb einer Kultur – in den durch Mitgliedschaftsausweise generationaler, geschlechtlicher, ideologischer, sozialer, religiöser Zugehörigkeit und sexueller Orientierung definierten Subkulturen und gesellschaftlichen Gruppen – zusätzlich hochkomplex differenziert, macht deren Erforschung sicher nicht einfacher, aber dafür umso reizvoller. Wenn dies schon innerhalb einer Kultur von brisanter Bedeutung ist, dann erst recht für die Begegnung zwischen Angehörigen deutlich differenter Kulturen aus den deutschsprachigen und arabisch-muslimischen Regionen.

Der offenen Diskussion darüber und damit der Förderung der deutschen Sprache und Literatur sowie der weiteren Intensivierung der deutsch-ägyptischen Beziehungen dient das Colloquium: Wie manifestieren sich sprachbasierte Rituale? Wie ist von Routineformeln getragenes Ritualhandeln organisiert? Welche Wechselbeziehungen gibt es zwischen Ritualen und Tabus? Warum existiert bei manchen Tabus ein positiver Regelungskreis, der durch ein Ritual vor einem Tabubruch bewahrt (z.B. beim Siezen), bei anderen hingegen nicht? Warum haben Tabus häufig die Form einer Unterdrückung spezifischer verbaler Äußerungen? Was macht Geltungsdifferenzen von Tabus für die jeweils andere Gruppe so schwer erträglich? Wie trägt Sprache in diesen Formen konstruktiv oder destruktiv zur Festigung und Reproduktion sozialer Wirklichkeit bei? Wie werden solche Formen von literarischen Autoren vor dem Hintergrund ihrer (interkulturellen) Kommunikationserfahrung sensibel registriert und ästhetisch modelliert?

Erst die wissenschaftlich freie (auch von Vor-Urteilen freie) Suche nach Antworten auf solche und ähnliche Fragen, erst das Wissen über die zugrundeliegenden Normen und sozialen Richtwerte des eigenen Handelns und des fremden, kann zu jener inter-kulturellen Sensibilisierung der Dialogpartner führen, ohne die eine Verständigung zwischen den Kulturen langfristig kaum gelingen wird.

Das Colloquium soll in der Folge des deutsch-ägyptischen Wissenschaftsjahres und in der Tradition bisheriger vom DAAD geförderter GiG-Tagungen als eine erstmalige Veranstaltung dieser Art in der arabischen Welt zugleich ein Zeichen setzen im Dialog zwischen 'westlichen' und 'islamischen' Kulturen.


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