'Wildnis' als Wunschraum westlicher 'Zivilisation'. Zur Kritik des Exotismus in Peter Altenbergs Ashantee und Robert Müllers Tropen
AuthorsAngelika Jacobs, Hamburg
Neben modernen räumlichen Präsentationsformen des 'Wilden' in Zoos, Filmen oder Naturhistorischen Museen stellen Völkerschauen ein prominentes Modell des kolonial-exotistischen Kulturkontakts dar, das um 1900 in die Entwicklung urbaner Konsumstrukturen eingebunden ist. Die zirzensische Präsentation ethnischer Truppen als Konsumgut innerhalb "gesicherter Räume der Andersartigkeit" (E. Ames) propagiert den populärethnologischen, bildungsbürgerlichen Anspruch, ein 'authentisches' Bild der fremden Kultur zu vermitteln. Zwei Texte der modernen Wiener Literatur archivieren die komplexen Verflechtungen dieser Authentizitätsfiktion mit imperialen Machtlogiken und kulturhistorischen Stereotypen des 'Wilden': In Altenbergs impressionistischer Verarbeitung der Aschanti-Schauen von 1896/97 koexistieren der kritisch-ethnographische Blick auf den Rassismus des Wiener Publikums gegenüber den 'edlen Wilden' und der exotistisch-erotische Blick auf die Kindfrauen der Aschanti; beide Perspektiven basieren auf der Leitidee einer möglichen Verschmelzung mit der Fremdkultur durch 'Einfühlung'. Müllers expressionistisches Hauptwerk "Tropen" (1915) desavouiert diesen Einfühlungsmythos, indem es im misslingenden Kulturkontakt vor Ort die soziale Disfunktionalität des westlichen Exotismus und seiner Wunschräume vorführt. Der als verkehrtes Völkerschau-Szenario gestaltete Mittelteil des Romans lenkt den Blick auf den defizitären Zustand westlicher Kulturen zurück und entwirft die rudimentäre Utopie eines globalen Prozesses der Rassenmischung. Dessen historische Entsprechung ist in der für Österreich-Ungarn spezifischen Konfrontation binnenländischer 'Exotismen' zu sehen. So wie die Krankheitsbilder des "Aschanti-Fiebers" und des "Tropenkollers" die Grenzen zivilisierter Identitätsraster umreißen, denunzieren die Sehnsüchte und Utopien beider Texte den Konstruktcharakter eines 'authentischen' Kulturkontakts mit dem 'Wilden'.