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"Balkan-Expeditionen" und österreichische Volkskunde. Zur Erkundung des "Fremden" und zur "Erfindung" einer Wissenschaft in Österreich-Ungarn

Im empirischen Blickpunkt der Untersuchung von Christian Marchetti steht die ethnografische/volkskundliche Erforschung der Balkanhalbinsel durch die frühe österreichische Volkskunde während des 1. Weltkriegs. Die Entstehung der österreichischen Volkskunde ist eng mit dem Balkan verbunden, ihre ersten Institutionalisierungen, sowie ihre frühen Forschungsinteressen gingen Hand in Hand mit der politischen und militärischen Expansion der Habsburgermonarchie nach Südosten. Entsprechend der multinationalen Gestalt der Doppelmonarchie war die Volkskunde als staatstragende, bürgerliche Wissenschaft auf den Kulturvergleich ausgerichtet.
Ihren Höhepunkt erlebte die volkskundliche Balkanforschung im Zuge des 1. Weltkriegs. Entsprechend nimmt sich die Untersuchung die vom 22. Mai bis 12. August 1916 im Auftrag des k.k. Unterrichtsministeriums und der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften unternommene historisch-ethnografische Balkanexpedition zum Angelpunkt. Die von Sarajewo aus durch die Herzegowina, Montenegro, Albanien und Serbien unternommen Forschungsreise hatte neben wissenschaftlichen auch kriegsdienliche und propagandistische Aufgaben. Die Wiener Volkskunde nahm an ihr in Gestalt des eigens vom Frontdienst freigestellte Dr. Arthur Haberlandt Anteil. Diese Expedition, ihre Ergebnisse und deren Verwendung sollen quellenmäßig erfasst und in verschiedenen Kontexten befragt werden.
Zum einen wird sie in den Kontext, der mit der Besetzung Bosnien-Herzegowinas einsetzende "Entdeckung" der an das Habsburgerreich angrenzenden Balkangebiete durch Wiener Volkskundler (bspw. Friedrich Salomo Krauss) und die (versuchte) Institutionalisierung einer bosnischen Volkskunde am Volkskunst-Museum in Sarajewo gestellt. Damit soll zur Fachgeschichte der österreichischen Volkskunde, ihrer spezifischen Rolle und Lage im multinationalen Kontext des Habsburgerreiches beigetragen werden. Die Selbstzurichtung auf kriegsdienliche Zwecke während des 1. Weltkriegs bringt der jungen Disziplin, so eine zentrale These der Untersuchung, zeitnah den wichtigen Schritt der Anerkennung als universitäres Lehrfach ein. Aus dieser Indienststellung ergibt sich auch die über die Fachgeschichte hinausgehende Frage nach dem Anteil der österreichischen Volkskunde an der Auseinandersetzung des Habsburgerreiches mit dem Balkan. In diesem Theoriefeld, das sich unter den Großbegriffen "Orientalismus" und "Balkanismus" aufspannt, will die Untersuchung spezifizierend wirken, in dem sie den Blick auf (semi-)periphere Stätten der Wissensproduktion (Wien, Sarajewo) und periphere Wissensagenturen (österreichische Volkskunde) richtet. Zudem soll die eigentümliche Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und ihr Beitrag zur Konstruktion des ontologischen und epistemologischen Balkanbildes analysiert werden. Reisend und sammelnd, schreibend und ausstellend ist das ethnografische Tun eine spezielle Form der 'Textualisierung' des Fremden/Anderen. Als soziale Praxis soll es analysiert und kontextualisiert werden. Ziel ist der Nachvollzug eines komplexen Zusammenhangs von Kriegserfahrung, Humanwissenschaft und Modernität.
Kontakt: christian.marchetti@uni-tuebingen.de

christian.marchetti@uni-tuebingen.de
Link zu Website oder Homepage: www.uni-tuebingen.de/kultur/02-le/02-le-15-marchetti.htm
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