Erinnerung | Memory - Part 57

posted by PP on 2006/08/23 17:28

[ Erinnerung | Memory ]

Maike Lehmanns Rezension von
Anke Stephan: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen. Zürich: Pano 2005 (Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 13)
[ISBN 3-907576-83-7]
fällt ausgesprochen positiv aus und regt - gerade auch aus Sicht eines Interesses an Oral History und/oder Gender Studies - zur Lektüre (Lehmanns Prädikat: "gewinnbringend") an:
In ihrer Darstellung geht die Autorin mit viel Gefühl fürs Detail vor, ohne dass die hermeneutische Betrachtung der Interviews und Memoiren ins reine Erzählen abgleitet. Die Arbeit zeichnet sich gerade durch ihre abwägend argumentierende Analyse der zu Tage tretenden Diskurse aus. Überzeugend ist zudem, wie die Autorin wiederholt den fortdauernden Zusammenhang zwischen individuellen Erfahrungen und gesamtgesellschaftlichen Diskursen sowie zwischen persönlichem Erleben und kollektivem Erinnern aufzeigt.
Due Ausgangsproblematik ist keine geringe und das Ergebnis scheint umso überzeugender auszufallen:
Das Gedächtnis lügt. Dieser Satz umschreibt nicht nur eine Erkenntnis der Gedächtnisforschung, die sich auf die Form- und Wandelbarkeit von Erinnerung durch spätere Erlebnisse, nachträgliche Sinnstiftungsprozesse und "Quellenamnesie" bei den Erinnernden bezieht. Er steht auch für die weiterhin verbreitete Skepsis unter Historikern gegenüber der Oral History. Das Argument, Oral History ließe kaum Aussagen über die Zeit zu, über die sie retrospektiv spricht, ist angesichts des Systemwandels in Osteuropa immer wieder zu hören. Bezeichnenderweise sind Interviewprojekte zum Staatssozialismus rar; der Großteil der neueren Forschung konzentriert sich auf die klassische Archivarbeit. Letztere hat inzwischen aus sowjetischen Aktenbeständen grundlegende Einsichten zu Weltsichten und Handlungsmustern verschiedener Bevölkerungsgruppen gewonnen. Zeitzeugen aber selbst zu befragen, ist meist nicht Teil der historischen Untersuchung. Damit wird die Chance vertan, Lebenswelten zu erschließen, die sich nicht in den Akten der Staatsarchive niedergeschlagen haben. Ebenso wenig versucht man anhand der "Lügen" Aufschluss über Wirkungsmacht und Sinnhaftigkeit der sozialistischen Erfahrung zu erhalten. Es stellt sich die Frage, ob Interviews nicht grundlegend zum Verständnis des Sozialismus als Herrschaftssystem und Utopie, vor allem aber als Kultur beitrüge.
Wie ertragreich Oral History zur Erschließung dieser Kultur sein kann, zeigt Anke Stephans Buch "Von der Küche auf den Roten Platz". Darin beschäftigt sich die Autorin mit einer Gruppe, zu der alles gesagt zu sein schien. Ihr geht es aber nicht allein um die politische Aktivität, sondern vielmehr um die Kultur und Lebenswelt der Dissidenz. Die betrachtet sie aus der Perspektive von Frauen, die eine zentrale Rolle innerhalb der Bewegung spielten, bislang jedoch kaum näher betrachtet wurden. Dieser Zugang erlaubt Einsichten in eine Welt, die in den Schriften der prominenten, meist männlichen Dissidenten keinen Platz hatte: der Alltag, die Formierung sowie die gesellschaftliche Verfasstheit der Bewegung. Gerade mit der Thematisierung von Geschlecht hinterfragt Anke Stephan Rollenzuschreibungen innerhalb der Bewegung, das darin zum Ausdruck kommende Verhältnis zur offiziellen Propaganda sowie die Einbettung der Bewegung in gesamtgesellschaftliche Diskurse.

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Seitenwechsel. Geschichten vom Fußball. Hgg. v. Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bohmann 2008, 237 pp.
(Weitere Informationen hier)
Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch Rumänien 3-4/2004-2005. Hgg. v. Andrei Corbea-Hoisie u. Alexander Rubel. Bukarest/Bucuresti: Editura Paideia 2008, 336 pp.
[Die online-Fassung meines Einleitungsbeitrags "Thesen zur Bedeutung der Medien für Erinnerungen und Kulturen in Mitteleuropa" findet sich auf Kakanien revisited (Abstract / .pdf).]
Seitenweise. Was das Buch ist. Hgg. v. Thomas Eder, Samo Kobenter u. Peter Plener. Wien: Bundespressedienst 2010, 480 pp.
(Weitere Informationen hier wie da, v.a. auch do. - und die Rezension von Ursula Reber findet sich hier [.pdf].)
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