History - and what goes with it

posted by Bela Rasky on 2006/04/15 18:02

[ History - and what goes with it ]

Zu Recht....

....wird man jetzt fragen, was denn [budapest] mit den Karpaten zu tun habe. Nun, nichts und viel. Aber die Stadt sitzt nun mal doch "unter dem Karpatenbogen" und deshalb – und weil es ein schöner Artikel ist – passt das Folgende auch her:

15. April 2006, Neue Zürcher Zeitung

Die Auslagerung der Phantasie

Nah am Himmel erfüllt vom grossen Geheimnis? - Die Karpaten als Mythos und Ideologie

Die Alpen verschwinden fast hinter der Menge an kulturellen Zuschreibungen. Mit den Karpaten verhält es sich nur wenig anders, doch ist das Register dieser Zuschreibungen ausserhalb des Raumes weitgehend unbekannt. Seine europäische Randständigkeit macht das von der Slowakei über Polen und die Westukraine bis nach Rumänien sich erstreckende Gebirge wie eh und je zum Mythos.

Von Richard Wagner «Die folgende Erzählung ist nicht phantastisch, sie ist nur romantisch. Es würde ein Irrtum sein, wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit zu glauben, das sie nicht wahr wäre. Wir leben in einer Zeit, wo alles möglich . . . , ja man wäre berechtigt zu sagen, wo alles schon vorgekommen ist.» Mit diesen Sätzen beginnt Jules Verne seinen 1892 erschienenen Roman «Das Karpatenschloss». Verne spricht von einem «entlegenen Gebiet Europas». Er meint damit «Transsilvanien, wo die mächtige Kette der Karpaten für Geisterbeschwörungen und Geistererscheinungen einen so günstigen Boden bietet». Überflüssig zu betonen, dass Transsilvanien, das Land hinter den Wäldern, in seinem Roman topographisch ziemlich ungenau erscheint.

Das aber ist egal. Geht es doch eher um die Geschichte eines Rastlosen, der die Stimme seiner geliebten Operndiva plötzlich aus einem Bergschloss zu vernehmen meint. Er vermutet sie dort als Gefangene, es wird sich aber herausstellen, dass es sich, o Hinterhältigkeit des Fortschritts, um eine Art Grammophon handelt, in Händen eines weiteren Fans und damit Rivalen.

Nein, die Geschichte ist nicht phantastisch, sie ist nur romantisch. Um ihre Romantik aber wirken zu lassen, braucht sie die Auslagerung ins fremde Territorium. Wie der nächste Roman, dessen Protagonist sich in die Gegend begibt, fünf Jahre später, Bram Stokers Immobilienmakler Jonathan Harker. Er macht sich bekanntlich aus dem viktorianischen London über Wien und Budapest nach Bistritz auf, der Kleinstadt in den heute rumänischen Ostkarpaten. Dort steigt er in der «Goldenen Krone» ab, einem Gasthaus, in dessen Tradition sich heute ein Touristenhotel eingerichtet hat. In der Drei-Sterne-Herberge stösst man auf einen Jonathan-Harker-Salon und ein Separee des Grafen Dracula. Im Salon soll sogar der ehemalige König Mihai vor einigen Jahren gespeist haben. Von hier aus jedenfalls lässt es sich auf den Spuren Harkers zum Borgo-Pass reisen, wo ein Schloss des Grafen Dracula, eine Romankulisse, besichtigt werden kann. Ist das nicht phantastisch? Nein, es ist nur romantisch.

auslagerung ins fremde

Bis heute führt der Weg zu den als wild, als nicht normiert geltenden Rändern, die Harker- Route entlang. Fremder und Einheimischer stehen sich dabei in einer klassischen Situation der Sprachlosigkeit gegenüber. Der Fremde, der aus dem Zentrum kommt, begegnet dem Einheimischen, der die Rolle eines Bewohners der Peripherie einnimmt. Er tritt dem Reisenden mit Vorliebe als Auskunftsperson entgegen. In den meisten Fällen betätigt er sich aber als Stichwortgeber, mitunter sogar als Fallensteller. Die Einheimischen geben stets nur vor, dass sie das, was der Fremde sucht, gefunden hätten. So werden sie ihrer Aufgabe als Teil der Tourismusindustrie gerecht, deren Ziel bekanntlich ist, den Fremden davon zu überzeugen, dass er den Bären selbst erlegt habe.

Der Fremde sucht einen Ort, den es nicht gibt. Er, der existenzialistisch Gebeutelte, will heimkommen. An einen Ort, der ohne das Gewicht der Welt auskommt. An einen göttlichen Ort. So hält er den Einheimischen bisweilen für den Hausmeister Gottes. Aufschlussreich ist in dieser Frage der im europäischen Arthouse-Kino mit grossem Erfolg gezeigte Dokumentarfilm «Carpatia» von 2004. Es geht darin um Einheimische, die aus ihrem Leben erzählen. Das meiste, was sie sagen, ist auffallend existenzphilosophisch fokussiert, was wohl weniger an ihnen liegt als an der Art, wie sie gefragt wurden.

Dem Zuschauer der Mitte aber muss es so vorkommen, als sei der Bewohner der Karpaten näher dran am grossen Geheimnis. Bis heute hält sich in den europäischen Metropolen die hartnäckige Vorstellung, dass an Orten, wo die Züge nicht pünktlich fahren und es kein geregeltes Frühstück gibt, die Himmelstür sichtbar wäre. Das angesprochene Lebensgefühl hat seinen einheimischen Ausdruck in Adolf Meschendörfers «Siebenbürgischer Elegie» von 1927 gefunden. Sie beginnt so: «Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit / Früh fasst den staunenden Knaben Schauder der Ewigkeit.» Die Imagination über die Karpaten lässt diese zum Appellationsort werden, zum Appellationsort für eine Instant-Offenbarung.

Auch wenn der Einheimische auf den Fremden einzugehen scheint, bleibt es dabei, dass sie nicht nur unterschiedliche Vorstellungen vom Ort, an dem sie zusammenkommen, haben, sondern auch verschiedene Ansichten von ihrer jeweiligen Rolle im Allgemeinen. Das Gleichgewicht der Welt beruht mehr auf der Rollenverteilung als auf der Hierarchie.

Alle geographisch als Mittelpunkt Europas ermittelten und von den Einheimischen mit einem entsprechenden Kult ausgestatteten Orte sind bedeutungslos. Vor Jahren hat der in Deutschland lebende polnische Filmemacher Stanislaw Mucha all diese Nester aufgesucht, die sich im Laufe der Zeit zum Zentrum unseres Kontinents erklärt haben. Es sind ausnahmslos Orte, ein gutes Dutzend, die weder politisch, ökonomisch noch kulturell aufgefallen sind. Ihre Bedeutung besteht einzig und allein in der von ihnen errechneten geographischen Lage. Ausser ihnen selber kennt sie niemand. Es sind Vermessungsorte, aber auch Orte der Vermessenheit. Ihre Selbstdarstellung verbirgt nur unzureichend die Verunsicherung darüber, keinen plausibleren Grund gefunden zu haben, mit dem man sich zur Mitte in Bezug setzen könnte. Was der Peripherie lebenswichtig erscheint, ist dem Zentrum meistens egal. Der Rand will Auto fahren, das Zentrum aber ergötzt sich am Anblick der vorgefundenen Pferdewagen. Harkers Bistritz ist ein ganz anderes als das der Einheimischen.

Nehmen wir die Memoiren des Buchdruckers und Sozialdemokraten Gustav Zikeli. Für den 1876 geborenen Siebenbürger Sachsen ist das Bistritz des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine wohlorganisierte Kleinstadt mit effektivem Zunftwesen und regem Vereinsleben. Knapp 60 Prozent der 8000 Einwohner betrachteten sich als Deutsche, Amts- und Protokollsprache waren ebenfalls Deutsch. Dass Zikeli 1895 als Buchdruckergeselle nach Berlin ging, und zwar mit einem Stipendium der Nationsuniversität, des Führungsgremiums der sächsischen Volksgruppe in Siebenbürgen, war damals nicht eine Ausnahme, es war die Regel. Man gehörte dazu. Siebenbürgen war als k. u. k. Gebiet Teil Europas. Helmer und Fellner, Bahnhöfe und Theater bezeugen es bis heute.

Die Welt Zikelis, seine Stadt, ist untergegangen. Das Desaster vollzog sich in drei Schritten. Den ersten bewirkten die Pariser Vorortverträge nach dem Ersten Weltkrieg, sie hoben den Limes, den die Karpaten als Grenze markiert hatten, auf und schlugen Siebenbürgen dem neuen Staat Grossrumänien zu, dessen Hauptstadt weit weg, auf dem Balkan lag, «aux portes de l'Orient, où tout est pris à la légère».
Der zweite Schritt in den Untergang folgte mit dem Aufkommen des Faschismus. Bei den Siebenbürger Sachsen war es, unter der Führung des Maulhelden Andreas Schmidt, die Verstrickung in den Nationalsozialismus. Sie bescherte vielen unter ihnen die Waffen-SS-Uniform, manchen den Heldentod, den meisten aber die Zwangsarbeit oder die Flucht.

Verschwundenes Territorium

Den dritten Schritt schliesslich verkörperte die Sowjetisierung Ostmitteleuropas nach 1945, das Verschwinden eines Raumes hinter dem Eisernen Vorhang. Dieses Verschwinden zog eine Ausblendung der betreffenden Territorien aus der westlichen Imagination nach sich. Es war ein Verlust, den die abendländischen Grundbücher, insbesondere nach achtundsechzig, ignorieren zu können meinten.

Seit 1989 nun ist nicht nur ein neues Interesse des Westens festzustellen, sondern auch eine Rückkehr der westlichen Imagination. Der Westeuropäer tritt in den Karpaten wieder häufiger als Fremder auf, als Tourist und Ethnograph, als Imagologe und Unternehmer, als Trophäensammler. Der Einheimische aber befindet sich in einem Dilemma. Einerseits präsentiert er sich dem Westeuropäer mit seinen Habseligkeiten wie auf einer Messe oder einem Jahrmarkt, andererseits muss er der Imagination des Gastes gerecht werden. Indem der Einheimische dem Fremden das Dracula-Schloss zeigt, dessen reales Vorbild Bram Stoker bei einem Ferienaufenthalt in Schottland, dreissig Kilometer nördlich von Aberdeen, in Augenschein genommen hatte, stellt er sich in eine erfundene Geschichte. Er wird Teil der westlichen Imagination, vor der ihn nichts mehr schützen kann, auch die Auswanderung nicht. Bela Lugosi, der Darsteller des ersten «Dracula»-Films von 1931, stammt aus der Banater Kleinstadt Lugosch, an den südwestlichen Ausläufern der Karpaten. Bei seiner Beerdigung 1956 wurde er im Dracula-Gewand aufgebahrt. Der Topos weicht dem Logo.

Während das Zentrum noch im kollektiven Vergessen den Kontinent prägt, muss sich die Peripherie ständig in Erinnerung rufen. Und das nicht nur der Mitte, sondern auch sich selbst. Der Rand spricht gerne von den grossen Söhnen und manchmal auch Töchtern, die aus seinen Bezirken fortgegangen sind. Zugleich markiert er die Spuren berühmter Besucher.

LITERATUR ALS BEWEISFÜHRUNG

Alles erscheint wie ein Beweis für die sinnvolle Existenz des Randes. Zur Beweisführung aber dient vor allem die Literatur. Sie, die ungenaueste aller Wissensformen, wird der Unschärfe randständiger Lebensziele, ihrer Ambivalenz, am ehesten gerecht. «Am Ende der Schienen stand ein einstöckiges schäbiges Gebäude, von der Traufe hing ein angestrichenes Stück Brett, darauf Dobrin, der Name des Dorfes. Jemand hatte noch dazugeschmiert: City.» So Adam Bodor in seinem Roman «Schutzgebiet Sinistra». Sowohl Trivial- als auch Hochliteratur arbeiten mit dem Geheimnis, zuweilen auch an ihm. - Der Rand ist ein eingetragener Ort der Postmoderne. Wenn sich aber in ihm die Schrift zum Schriftzug wandelt, der Logos zum Logo gerinnt, sind es nicht bloss Erkennungszeichen eines Gewerbes, sondern nach wie vor Bilder der Identität. Carpatair benennt nicht nur eine (rumänische) Fluggesellschaft, es heisst gleichzeitig, nicht ohne Stolz, auch wir, die Rumänen, fliegen. Die Karpaten sind Gegenstand der Logoistik. Bekanntlich erfordert das Globale vermehrt die Notation der Differenz. Identität erscheint als unverzichtbare Designkomponente auf dem Weltmarkt, sie geht als Markenzeichen durch. Die Karpaten sind imposant genug, um dem Identitätsdesign Prägnanz zu verleihen.
«Siebenbürgen Land des Segens, / Land der Fülle und der Kraft / Mit dem Gürtel der Karpaten / um das grüne Kleid der Saaten / Land voll Gold und Rebensaft». So beginnt die siebenbürgisch-sächsische Volkshymne, von Max Moltke 1846 verfasst. «Karpaten, gekrümmt» heisst es hingegen in den Zeiten des Kommunismus bei Rolf Bossert, geboren in Reschitza, im Banater Bergland. Und: «Draculas Grossneffe weint / um die alte Heimat.» Der emigrierte Oskar Pastior aus Hermannstadt wiederum spricht von den «paar katen», und das in einem Gedicht, das den bewusst irreführenden Titel «Lesung mit Zugspitze» trägt. - In Rumänien werden die Karpaten gerne als rumänisches Gebirge betrachtet. Sie sind Teil der Nationalsymbolik. Kein öffentlicher Diskurs kommt ohne die Karpaten aus. Nicht einmal der Diktator Ceausescu, der als unermüdlicher Trophäenjäger eine Helikopterverbindung zum Hochsitz unterhielt, konnte auf die Bergkette verzichten. Die peinliche Hofdichtung seiner Amtszeit, der «goldenen Epoche», bediente sich häufig des Karpatenvergleichs.

Mitten in Rumänien, also rumänisch, sind die Karpaten erst seit 1918. Davor galten sie als das natürliche Bollwerk gegen Asien, zu seiner Sicherung waren schliesslich auch die Sachsen hierher geholt worden, im 12. Jahrhundert, auf den Königsboden, durch den ungarischen Throninhaber. Das im Karpatenbogen eingerichtete Siebenbürgen, die weite Hochebene, im Osten und Süden von den Wäldern des Bergmassivs begrenzt, war Teil Kakaniens und gleichzeitig Imaginationsobjekt der ungarischen Nation. Sie, die in der pannonischen Ebene residiert und dort einige der schönen Orte Mitteleuropas verwaltet, angeführt von der Donaumetropole Budapest, kommt bis heute merkwürdigerweise nicht um den Verlust Siebenbürgens herum. Siebenbürgen ist auch ein ungarischer Geheimnisort. Vor allem mit dem Szeklerland, das mit der Ware Ursprünglichkeit zu handeln weiss, aber auch zum Schauplatz grotesker Überlebensgeschichten wurde. So in Geza Szavais Roman «Spaziergang mit Frauen und Böcken», der Chronik und Lexikon ironisch vermischt, ein Grundprinzip der Provinz, das Wahrheit und Erkenntnis fern von den Stätten der Innovation festzuhalten versucht.

alleingänge

Als Region wird Siebenbürgen von drei konkurrierenden ethnischen Gruppen für die kollektive Imagination in Anspruch genommen: Rumänen, Ungarn, Deutsche. Sie wissen zwar um ihre Gemeinsamkeiten, schmücken aber ihre Alleingänge aus. Der jeweils geschaffene Mythos treibt bis heute die Kollektive um. Die Institutionen der Sachsen sind immer noch präsent, trotz dem Weggang der Menschen. In Kronstadt, in der Honterus-Schule, benannt nach dem grossen sächsischen Kirchenreformator, stellen sich rumänische Kinder dem deutschsprachigen Unterricht. An den Schulfesten ziehen sie die sächsischen Trachten an, simulieren die Sachsen-Folklore, um demnächst ein deutschsprachiges Abiturzeugnis in Händen zu halten, mit dem man etwas in Europa anfangen könne, wie sie meinen.

Hermannstadt/Sibiu/Nagyszeben, den Südkarpaten vorgelagert, einst Handels- und Wirtschaftsmetropole der Siebenbürger Sachsen, ist 2007, gemeinsam mit Luxemburg, Kulturhauptstadt Europas. In seiner Nähe liegt das Hirtendorf Rasinari, Geburtsort E. M. Ciorans, Wirkungsstätte seines Vaters, eines orthodoxen Priesters. Es war ein Ort der erträumten Offenbarung und des erfahrenen Nihilismus.

Cioran hat Rasinari und Hermannstadt nie wiedergesehen, sie aber im Kopf auch nie verlassen. Noch in den siebziger Jahren erwähnt er in Briefen an Wolf von Aichelburg in Hermannstadt den dortigen Erlenpark, will wissen, wie die Strasse, in der Aichelburg wohnt und die von den Kommunisten umbenannt wurde, vor dem Krieg geheissen habe. Mehrfach spricht er von der Brukenthal-Bibliothek, in der er Kierkegaard, Heidegger und eine Menge Theologie gelesen habe, von dem Bibliothekar Erwin Reisner und einem Buch, das dieser verfasst habe und das ihm, Cioran, wohl wichtig genug war, um es noch fünfzig Jahre später zu empfehlen, ein obskures Werk, das schon damals keiner kannte.

Fährt man an Rasinari vorbei, kommt man bald hoch hinauf in die Südkarpaten, an einen Ort des Wintersports, Paltinis, von den Sachsen «Hohe Rinne» genannt. Hier hatte sich für zwölf Jahre, auf dem Höhepunkt der walachischen Familiendiktatur, Constantin Noica eingerichtet, Heideggerianer und Nationalphilosoph, in seiner Jugend glühender Anhänger des rumänischen Rechtsextremismus, der Eisernen Garde, im Alter Verfechter eines kulturellen Widerstands gegen die Banalisierung des Bösen durch die Propaganda der Kommunisten. Er, ein Jugenddisputant von Cioran, wird in den Fünfzigern zum Adressaten von dessen Essay «Brief an einen fernen Freund» aus dem Band «Geschichte und Utopie». Cioran ist nach Paris gegangen, ihn kennt heute jeder, Noica ist nur den Insidern ein Begriff, in Rumänien selber aber gehört er zum Parnass. Als ein Mann, der die europäische Kultur hochgehalten hat in finsterer Zeit und um sich eine Schar von Schülern versammelte, die heute in führenden Positionen des rumänischen Kulturbetriebs sind: Gabriel Liiceanu, Andrei Plesu. Wer aber kennt den rumänischen Parnass, ausser den Rumänen?

Noica lebte bis zu seinem Tod im Jahre 1987 ein asketisches Leben in einer Blockhütte auf der «Hohen Rinne», in einem ambivalenten Verhältnis zur nationalkommunistischen Diktatur, die Teile seines Werks zwar zu manipulieren versuchte, vor allem seine Überlegungen zum rumänischen Seinsgefühl, der er aber konstant ein Dorn im Auge blieb. Philosophie war das Letzte, was die Kommunisten brauchen konnten.
Als Nationalsymbol wurden die Karpaten zum paradoxen Ideologem, zur Leerformel. Die Kommunisten holten sie ins Staatswappen, gleichzeitig zogen sich die letzten bewaffneten Widerstandsgruppen gegen den Bolschewismus in diese Berge zurück. Kleine Verbände harrten dort bis zum Ende der fünfziger Jahre aus.

Unbekanntes register

Zum Beweis ihrer Macht hatten die Stalinisten oberhalb von Kronstadt/Brasov/Brasso, dem Geburtsort eines Brassai, das sie in Oraul Stalin, Stalinstadt, umbenannten, am Berghang einen Wald in der Form des Namenszugs des Generalissimus angelegt. Aus dem Zugfenster konnte man weithin über dem Land den Namen, den die Bäume beschrieben, lesen. Später, als die Bukarester Nomenklatura sich von Moskau abwandte und eine nationalistische Rhetorik pflegte, fällte sie die Bäume. Aber auch jetzt sah man aus dem fahrenden Zug den Namen Stalins, diesmal wegen der gefällten Bäume. Es war wie eine Narbe am Berg. In der Schulerau, auf der Skipiste oberhalb von Kronstadt, verbrennt sich am 2. März 1989 Liviu Babes, ein später Jan Palach, aus Protest gegen die Diktatur.

Die Karpaten vermitteln den Eindruck, als herrsche hier immer noch Geschichte und nicht Geschichtsschreibung. So dienen sie der Auslagerung der Phantasie, sind aber doch nur ein Spiegel der Alpen. Die Bergsteigerorganisation der Siebenbürger Sachsen nannte sich nach ihrer Gründung 1873 zunächst «Siebenbürgischer Alpenverein», später «Karpatenverein». Heute, nachdem die meisten bergsteigenden Sachsen nach Deutschland ausgewandert sind, heisst der Nachfolgeverein mit Sitz in München «Karpaten-Sektion im Deutschen Alpenverein».

Die Alpen haben ihr Grundbuch. Die Stichwörter im Register sind bekannt: Albrecht von Hallers Poem, Saussures Reisebericht, Ferdinand Hodlers Gemälde, die Filme von Luis Trenker und Leni Riefenstahl, Montblanc-Federn, Johanna Spyris Heidi, die Milka-Kuh, der Freiheitsmythos um Andreas Hofer, Franz Tumlers Land Südtirol, die singenden Ladiner, Joseph Zoderers Romane, das faschistische Siegesdenkmal in Bozen, die Bergromane aus dem Bastei-Lübbe-Verlag, der Kärntner Ortstafelstreit, der Ötzi und der DJ Ötzi, die Maut-Diskussion, die Burg von Reinhold Messner, die Stimme von Hansi Hinterseer, der Triglav, die Turbo-Polka, das Drahtseilbahn-Unglück, Richard Strauss.

Die Alpen verschwinden hinter ihrer Liste. Auch mit den Karpaten verhält es sich nicht anders. Ihr Register ist dem Zentrum aber noch weitgehend unbekannt. Diese Unbekanntheit macht die Nachricht wie eh und je zum Geheimnis und verleiht diesem die Aura des Tabus. Der europäische Mensch ist zwar ein Gegner des Tabus, aber er liebt die Begegnung mit ihm. Ort und Verortung fallen auseinander. Elizabeth Kostova, Autorin des neuesten Dracula-Romans, bekennt freimütig, sie sei nie in Rumänien gewesen. Sie freut sich aber, demnächst an den Schauplatz zu reisen. Vielleicht anlässlich des Erscheinens der rumänischen Übersetzung in einem Bukarester Verlag. Wir stellen uns die Buchpremiere in der «Goldenen Krone» in Bistritz im Jonathan-Harker-Salon vor.

Am Morgen danach fährt ein Toyota-Geländewagen den Borgo-Pass hinauf. «Ist das nicht phantastisch?», ruft einer der Reisenden. «Nein, es ist nur romantisch», murmelt der Fahrer, der Bela Lugosi verdammt ähnlich sieht.
Richard Wagner, 1952 geboren im rumänischen Banat, lebt als Schriftsteller in Berlin. Gerade ist im Aufbau-Verlag der Band «Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes» erschienen.

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2006/04/15/li/articleDPDDO.html

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A picture from the heydays of liberal Budapest - when a whole (though short) underground line could be built within two years. And M1, the famous "Földalatti", Budapest's yellow line, still works. I have never seen this image of the construction on Andrássy before, so be full of admiration - and I am not telling your where it is from...

The M1-line so is a memento to both: a liberal mayor (for what Budapest was capable of) and the Siemens company, who more than a hundred years ago was capable of producing faultless underground trams (not like today's Combino crap...)

Budapest has – together with St. Petersburg and Vienna – one of the largest tramway networks of the world. The tramway type "UV" – standing for "Új villamos - New tramway" and pictured above – was designed in the early forties and is still a symbol for Hungary's once high-tech railway-carriage industry. With the arrival of the new low-floor-trams in spring 2006 – built by Siemens in Vienna and not too beautiful – this landmark of Budapest will vanish from the cityscape.
György Petri: Imre Nagy

Du warst unpersönlich wie die anderen bebrillten Führer
im Sakko, deine Stimme war nicht metallen,
denn du wußtest nicht, was du eigentlich sagen solltest,
so unvermittelt den vielen Versammelten. Gerade das Plötzliche
war ungewohnt für dich. Du alter Mann mit dem Zwicker,
ich hörte dich, ich war enttäuscht.
Ich wußte noch nichts

vom Betonhof, wo der Staatsanwalt
das Urteil gewiß heruntergeleiert hat,
ich wußte noch nichts von der groben Reibung des Stricks, von der letzten Schmach.

Wer will sagen, was sagbar gewesen wäre
von jenem Balkon aus, Möglichkeiten, unter Maschinengewehren
verfeuert, kehren nicht zurück. Gefängnis und Tod
wetzen die Schärfe des Augenblicks nicht aus,

wenn der eine Scharte bekommen hat. Aber wir dürfen uns erinnern
an den zögernden, verletzten, unentschlossenen Mann,
der gerade seinen Platz zu finden schien,

als wir davon aufwachten,
daß man unsere Stadt zerschoß.

Übersetzt von Hans-Henning Paetzke

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